Geschlechtsspezifische Abtreibungen haben sich nicht nur im asiatischen, sondern auch im europäischen Raum zu einem gravierenden Problem entwickelt. Von LAURA RAHM
Bei ungewollter Schwangerschaft Zugang zu einem legalen und sicheren Schwangerschaftsabbruch zu haben, ist ein global hart umkämpftes Frauenrecht. Abseits der Konfliktlinien zwischen Pro-Choice- und Pro-Life-VertreterInnen ist seit den 1980er-Jahren ein neues Phänomen aufgetreten: geschlechtsspezifische Abtreibungen. Denn der kulturell verankerte Wunsch nach Söhnen führt dazu, dass in weiten Teilen Asiens, dem Südkaukasus und vereinzelt in Südosteuropa gezielt weibliche Föten abgetrieben werden. Das Ungleichgewicht wird bei den Geburten deutlich. Während das biologische Geschlechterverhältnis bei der Geburt gewöhnlich etwa 105 männliche Säuglinge zu hundert weiblichen beträgt, werden in China, Indien, Vietnam, Armenien, Aserbaidschan und Georgien (um nur einige der betroffenen Länder zu nennen) zwischen 110 und 117 Männer pro hundert Frauen geboren. Insgesamt hat sich dadurch das weltweite Geschlechterverhältnis bei der Geburt auf 108 zu 100 erhöht. Laut internationalen Schätzungen „fehlen“ heute aufgrund von Geschlechterselektion zwischen 117 und 160 Millionen Frauen – allein in Asien. Das entspricht etwa der Anzahl der weiblichen Bevölkerung im Euroraum. Jüngste Studien belegen, dass MigrantInnen asiatischer Herkunft diese Praxis in Ländern wie Italien, Griechenland, England, Kanada oder den USA mitunter fortsetzen.
Für diese mädchendiskriminierende Praxis sind vor allem drei Faktoren ausschlaggebend: Sohnpräferenz, sinkende Geburtenraten und der Zugang zu Reproduktionstechnologien.
Stammhalter. Sohnpräferenz herrscht vor allem in patriarchalen, patrilinearen und patrilokalen Gesellschaften vor, wo Söhne aufgrund familiärer Pflichten und Privilegien bevorzugt werden: Der Familienname und das Erbe werden traditionsgemäß von Vater zu Sohn weitergegeben; von Jungen wird erwartet, die Familie wirtschaftlich zu unterstützen und Sicherheit im Alter zu gewährleisten. Mädchen werden als weniger „rentabel“ erachtet (wegen etwaiger Mitgiftzahlungen oder dem Verlassen der Familie nach der Eheschließung). Daher lastet ein großer Druck auf Frauen, mindestens einen männlichen Stammhalter zu gebären.Sinkende Geburtenraten haben geschlechtsspezifische Abtreibungen noch verstärkt. Statistisch gesehen ist ab der sechsten Geburt mindestens ein Sohn garantiert. Die sogenannte stopping rule ist eine weit verbreitete Methode, nach der Paare so lange Nachwuchs zeugen, bis das Letztgeborene dem gewünschten Geschlecht entspricht. Während in China und Indien Anfang der 1970er-Jahre durchschnittlich noch über fünf Kinder pro Frau geboren wurden, hat sich dort die durchschnittliche Geburtenrate bis 2010 mehr als halbiert. Der Wunsch nach kleineren Familien, gepaart mit einer Sohnpräferenz, führt dazu, dass Eltern sich bei steigenden Geburtenfolgen für pränatale Geschlechterselektion entscheiden: Während das erste Kind noch ein Mädchen sein darf, muss bei der zweiten oder spätestens dritten Geburt ein Sohn folgen.
Technologien. Schließlich ermöglichen es Ultraschall-Untersuchungen, ab der 12. Schwangerschaftswoche das Geschlecht des Fötus zu bestimmen. Mit rasantem technologischem Fortschritt werden medizinische Methoden vielfältiger und erschwinglicher; so kann heute bereits durch einen einfachen Bluttest ab der siebten Schwangerschaftswoche das Geschlecht des Fötus bestimmt werden. Ungewünschte (weibliche) Föten können dann entweder medikamentös oder durch einen operativen Eingriff (Absaugmethode oder Ausschabung) abgetrieben werden. Geschlechtsspezifische Abtreibung ist nur eine mögliche Form, wie Eltern das Geschlecht der eigenen Nachkommen bestimmen. Generell wird in der wissenschaftlichen Literatur zwischen drei Formen der Geschlechterselektion unterschieden: Präkonzeption (selektive Befruchtung mit X- oder Y-Spermien), Präimplantation (selektive Übertragung männlicher oder weiblicher Embryonen) und pränatal (geschlechtsspezifische Abtreibung), wobei Letzteres aufgrund von flächendeckendem Ultraschall-Zugang die am häufigsten angewandte Methode darstellt. In verarmten Regionen mit geringem Zugang zu modernen Reproduktionstechnologien ist auch geschlechtsspezifische postnatale Kindstötung oder Vernachlässigung verbreitet. Es ist wahrscheinlich, dass sich das Phänomen fehlender Frauen noch verstärken wird, sofern sich soziokulturelle Normen in den betroffenen Regionen nicht verändern.
Kontrolle. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Abtreibungsdebatte. Denn offenkundig handelt es sich hierbei nicht mehr allein um einen Grundkonflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem Lebensrecht des Fötus. Vielmehr liegt es im öffentlichen Interesse, soziodemografischen Fehlentwicklungen (wie der Überrepräsentation eines Geschlechts) vorzubeugen. AbtreibungsgegnerInnen erhalten somit weitere Argumente, die staatliche Eingriffe zum Schutz des Gemeinwohls legitimieren.
Zahlreiche Regierungen haben daher gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung pränataler Geschlechterselektion ergriffen, und immer mehr Länder stehen – nicht zuletzt durch internationale Rahmenabkommen – unter Druck, neue Maßnahmen einzuleiten bzw. existierende zu verschärfen. Dazu zählt zum einen die gesetzliche Kontrolle des Angebots, wie die Regulierung von Reproduktionstechnologien und das Verbot vorgeburtlicher Geschlechterbestimmung und geschlechtsspezifischer Abtreibungen aus nicht-medizinischen Gründen. Geschlechterselektion aus medizinischen Gründen, etwa um die geschlechtsspezifische Vererbung von Krankheiten an die nächste Generation zu verhindern, ist in den meisten Ländern hingegen legal.
Eine weniger an Restriktionen orientierte Politik setzt stattdessen auf die Stärkung der Frauenrechte und Gleichstellung der Geschlechter, bietet monetäre Anreize für Eltern von Mädchen oder zielt durch mediale Aufklärungskampagnen darauf ab, traditionelle Rollenbilder zu hinterfragen und die Wertschätzung für Mädchen zu steigern.
Es bleibt jedoch fraglich, inwieweit die genannten Maßnahmen geeignet sind, das Geschlechterverhältnis wiederherzustellen. Als einziges „Erfolgsbeispiel“ ist Südkorea bekannt. Dem Land gelang es, das Geschlechterverhältnis bei der Geburt von 114 Männern zu hundert Frauen Anfang der 1990er-Jahre auf 107 zu hundert im Jahr 2010 zu reduzieren. ÄrztInnen, die das Geschlecht des Fötus mitteilten oder geschlechtsspezifische Abtreibungen durchführten, mussten mit hohen Geldstrafen oder Lizenzentzug rechnen. Eine Reihe von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetzen wurden erlassen und eine rigorose Implementierung und Überwachung sichergestellt. Zugleich wird die größere Ausgeglichenheit im Geschlechterverhältnis mit dem enormen Wirtschaftswachstum und der Urbanisierung des Landes in Verbindung gebracht. Diese Folgerung irritiert, da zahlreiche Statistiken belegen, dass Geschlechterselektion überwiegend in urbanen und wohlhabenden Familien praktiziert wird.
Grenzverwischung. Verschiedene europäische Institutionen haben angesichts dieser Entwicklung Stellung bezogen. 2010/11 wurde die Problematik erstmals im Europarat unter Federführung der ehemaligen Schweizer Abgeordneten Doris Stump behandelt. Die daraus entstandene Resolution verpflichtet die Partnerländer des Europarats (darunter Armenien, Georgien und Aserbaidschan) dazu, Rahmenbedingungen zur Bekämpfung pränataler Geschlechterdiskriminierung zu etablieren. Im Oktober 2013 stimmte das Europaparlament dem Beschluss „Genderzid: die fehlenden Frauen?“ zu. „Genderzid“ wird dort als „systematischer und vorsätzlicher Massenmord an Menschen aufgrund ihres Geschlechts“ definiert. Der verwendete Terminus ist jedoch höchst problematisch, da die Grenzen zwischen pränataler und postnataler Selektion verwischen, wenn Abtreibungen als „Massenmord“ deklariert und „Kindstötungen“ mit „Gewalt durch Geschlechtsselektion“ gleichgesetzt werden. Und erneut besteht die Gefahr, das Recht von Frauen auf sichere und legale Abtreibungen zu unterminieren. Parallel dazu scheiterte der Vorstoß des Frauenausschusses, der im EU-Parlament mit dem „Bericht über sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte“ für eine europaweite Legalisierung der Abtreibung warb und sich differenziert mit der Thematik Geschlechterselektion auseinandersetzte.
Wie ist die Ablehnung dieser Vorlage zu deuten? Die konservativen Strömungen im EU-Parlament nehmen einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Abtreibungsdebatte. Kurz vor der anstehenden Europawahl ist es also wichtiger denn je, genau hinzuhören, die Positionen der RepräsentantInnen zu hinterfragen, vom eigenen Stimmrecht kritisch Gebrauch zu machen. Denn zwischen dem unbedingt zu verteidigenden Recht auf Abtreibung und der Instrumentalisierung von Reproduktionstechnologien zum Erhalt patriarchaler Familien- und Gesellschaftsstrukturen muss sorgfältig unterschieden werden.
Laura Rahm ist Diplom-Kulturwirtin und Doktorandin am Pariser Institut für Bevölkerung und Entwicklung (CEPED/ Université Paris Descartes). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Politik, Gender und Entwicklung. Sie beschäftigt sich seit 2006 mit dem Recht auf Abtreibung im internationalen Kontext.