Die EU schreckt nicht davor zurück, gegen schutzsuchende Individuen vorzugehen, als seien sie eine feindliche Armee. Von Donata Hasselmann und Miriam Kruse
Seit Ende Februar ist Europa im Krieg, so scheint es: Die Einsatzkräfte im Süden der Europäischen Union werden verstärkt. Die Europäische Kommission verspricht Griechenland bedingungslose Solidarität, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dankt: In diesen Zeiten, so sagt sie, sei Griechenland das Schutzschild Europas.
Der Schauplatz des Geschehens ist die türkisch-griechische Grenze. Doch anders als es die Rhetorik der EU vermuten lässt, gibt es keinen Angriffskrieg. Stattdessen stehen dort Menschen, die ihre Länder verlassen mussten und ein menschenwürdiges Leben in der EU suchen. Das ist seit Abschluss des EU-Türkei-Abkommens im Jahr 2016 eigentlich unmöglich: Mit dem Abkommen verpflichtete sich die Türkei, ihre Grenzen zur EU zu schließen.
Nun aber hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die türkische Grenze geöffnet. Einige Tausend Menschen brachen daraufhin in Richtung türkisch-griechischer Grenze auf. Dort verteidigte die griechische Grenzwache die europäische Festung mit Zäunen, Waffen und Gewalt. Die Situation zeigt: Die EU schreckt nicht davor zurück, gegen schutzsuchende Individuen vorzugehen, als seien sie eine feindliche Armee.
Die EU ist gerüstet. Oberstes Ziel der EU-Migrationspolitik ist es seit 2015, den Zuzug von Geflüchteten und Migrant*innen of Colour zu verhindern. Dafür rüstet die Union auf: Ihre Grenzschutzagentur Frontex, gegen die der Vorwurf zahlreicher Menschenrechtsverletzungen besteht, baut sie kontinuierlich aus, bis 2027 sollen es 10.000 Mitarbeitende sein. Auch das Mandat von Frontex wurde unter anderem um die sogenannte „Africa-Frontex-Intelligence Community“ erweitert. Dabei handelt es sich um eine Kooperation mit Geheimdiensten größtenteils autoritär regierter Staaten, um Migrationsbewegungen frühzeitig erkennen und abwehren zu können. Daneben umfasst die Migrationsabwehr der EU zwei weitere Instrumente: Migrationspartnerschaften und Insellösungen. Beide dienen dazu, ein Abschottungssystem fernab von kritischer Öffentlichkeit zu etablieren.
Migrationspartnerschaften sind Abkommen, die die EU oder ihre Mitgliedsstaaten mit Herkunfts- und Transitstaaten von fliehenden und migrierenden Menschen schließen. Die Regierungen der jeweiligen Staaten verpflichten sich, diese Menschen schon an den eigenen Landesgrenzen aufzuhalten. Die EU bietet im Gegenzug Geld, Überwachungstechnologie und Trainingseinheiten für die Grenzbehörden. Bemerkenswert ist: Solche Abkommen sind per se nur mit autoritär agierenden Regimen machbar – denn in Demokratien würde sich keine Mehrheiten finden, die Ausreisesperren gegen die eigenen Bürger*innen beschließen. Und: Es werden genau die autoritären Regime gestärkt, die selbst die Fluchtursache sind.
Die folgenreichste Migrationspartnerschaft schloss die EU im März 2016 mit der Türkei ab: Die EU versprach der Türkei sechs Milliarden Euro und Visa-Liberalisierungen. Im Gegenzug verpflichtete sich die Türkei, ihre Grenzen zur EU zu schließen. Seitdem werden Menschen, die den Grenzübertritt versuchen, von der türkischen Grenzwache verhaftet, geschlagen und tagelang unter unwürdigen Bedingungen eingesperrt. Mittlerweile sind hiervon auch türkische Staatsbürger*innen selbst betroffen, die als „Nebeneffekt“ des Abkommens aus ihrem eigenen Land nicht mehr herauskommen.
Mit dem Abschluss des EU-Türkei-Abkommens hat die Türkei auch ihre Grenze zu Syrien geschlossen. Menschen, die es aus Syrien über die türkische Grenze schaffen, werden von der türkischen Grenzpolizei zurück nach Syrien gezwungen. Diese sogenannten „Push-Backs“ sind illegal, da die Menschen keine Chance bekommen, einen Asylantrag zu stellen. Türkische Grenzbeamt*innen schießen außerdem auf Menschen, die versuchen, die Grenze zu überqueren. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte zählte bislang 447 Grenztote.
Insellösung. Die wenigen Menschen, die es trotz brutaler Grenzabwehr über die syrisch-türkische und türkisch-griechische Grenze schaffen, landen meist auf griechischen Inseln. Dort werden sie unter katastrophalen Bedingungen festgehalten. Für Frauen ist die Lage besonders bedrohlich, da es keinerlei Schutz vor gewalttätigen Übergriffen gibt.
Den Menschen wird zudem ihr Recht auf ein normales Asylverfahren verwehrt. Sie sollen direkt zurück in die Türkei abgeschoben werden. Auf den Inseln prüfen die Behörden deshalb zunächst nur, ob es Gründe gibt, die gegen eine Abschiebung in die Türkei sprechen. Die EU rechtfertigt dieses Vorgehen damit, dass die Türkei ein sogenannter „sicherer Drittstaat“ sei.
Damit lagert die EU ihre Verantwortung an die Türkei aus. Aus politischer und humanitärer Perspektive ist das mehr als fragwürdig: Die Türkei hat bereits vier Millionen Geflüchtete aufgenommen – weit mehr als alle EU-Staaten zusammen. Aus juristischer Perspektive ist die Türkei zudem mitnichten ein „sicherer Drittstaat“: Sie erfüllt nicht einmal die rechtlichen Voraussetzungen, die das EU-Recht selbst für eine solche Klassifizierung vorsieht. Zudem hat sich die Menschenrechtslage in der Türkei spätestens seit dem gescheiterten Putsch-Versuch im Jahr 2016 extrem zugespitzt – so sehr, dass türkische Staatsbürger*innen mittlerweile selbst eine der größten Gruppen von Asylsuchenden in der EU sind.
Von diesem autokratischen Regime hat sich die EU politisch abhängig gemacht. Sie ist auf die Türkei angewiesen, um ihr eigenes Ziel – maximale Migrationsabwehr – umzusetzen. So erklärt sich auch, dass Erdogan nun schon den dritten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den kurdischen Teil Syriens führt, ohne dass die EU hierauf mit ernstzunehmenden politischen oder ökonomischen Konsequenzen reagiert. Wie gut das funktioniert, weiß Erdogan: „Hey EU! Ich sage erneut: Wenn ihr unsere Operation als Invasion darstellt, werden wir die Türen öffnen und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen“, sagte er Ende 2019 in Ankara.
Der menschenrechtliche Dammbruch: Jetzt auch offiziell. Was seit Februar passiert ist, ist nicht wegen der Gewalt und der Menschenrechtsverletzungen gegenüber fliehenden und migrierenden Menschen außergewöhnlich. Denn diese sind schon seit Jahren Bestandteil der ausgelagerten EU-Migrationsaußenpolitik.
Außergewöhnlich ist die neue Offenheit der Menschenrechtsverletzung durch griechische Grenzbehörden. Griechenland hat das nationale Asylrecht ausgesetzt – eine nach 1945 bisher undenkbare Maßnahme. Auf hoher See schießen griechische Grenztruppen auf Boote mit Geflüchteten, um sie zum Umkehren zu bewegen. Menschen, die es auf griechisches Staatsgebiet geschafft haben, werden in einem Geheimgefängnis an der griechischen Grenze inhaftiert. Mehrere wurden dort in Schnellverfahren ohne Anwält*innen zu langen Haftstrafen verurteilt.
Außergewöhnlich ist auch, dass die EU nun nicht einmal mehr offiziell den Anschein der Rechtsstaatlichkeit zu wahren versucht. Statt Griechenland für die Aussetzung des Asylrechts, die illegalen Push-Backs, die Gewalt und die Entrechtung der Geflüchteten anzuklagen, verspricht die EU-Kommission „Solidarität“ mit Griechenland. Solidarität also für einen eklatanten Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Asylgesetze. Es ist ein dramatischer Moment für alle, die von dieser Politik persönlich betroffen sind – und für alle, die für ein Europa des Rechts und der Freiheit kämpfen.
Es geht auch anders Als die griechischen Behörden mit den illegalen Push-Backs der fliehenden Menschen begannen, weigerte sich die dänische Besatzung der Frontex-Mission, daran mitzuwirken. Stattdessen dokumentierte sie die Menschenrechtsverletzungen. Ein heldinnenhaft anmutender Akt, der unter dem geltenden Rechtssystem der EU Normalität sein müsste.
Parallel dazu gehen in Europa zehntausende Menschen für eine Rückkehr zur menschenwürdigen Asylpolitik auf die Straßen. Allein in Deutschland haben sich 140 Städte und Kommunen zu „sicheren Häfen“ erklärt, die sich gegen die aktuelle Migrationspolitik aussprechen und aktiv darum kämpfen, Geflüchtete aufnehmen zu dürfen. Da diese Bewegung keine Unterkünfte anzündet, keine Journalist*innen beschimpft und keine Galgen auf ihren Demonstrationen in die Höhe hält, bekommt sie wenig Aufmerksamkeit. Doch für alle, die ein solidarisches Europa brauchen oder wollen, ist diese Bewegung ein Zeichen von Stärke und Hoffnung.
Donata Hasselmann ist Juristin und Regisseurin des Dokumentarfilms „Am Rande Europas“.