Mit NICOLA WERDENIGGS Berichten über sexuelle Gewalt im System ÖSV hat die #MeToo-Debatte auch den österreichischen Skisport erfasst. EVANGELISTA SIE hat die ehemalige Rennläuferin zum Gespräch getroffen.
an.schläge: Sie haben vor rund eineinhalb Jahren im „Standard“-Interview erstmals von Machtmissbrauch im Skisport, von sexuellen Übergriffen und vom Schweigen von Mitwissenden und Betroffenen berichtet. Was hat Sie damals motiviert, an die Öffentlichkeit zu gehen?
Nicola Werdenigg: Ein Fall war publik geworden: Ein Volleyballtrainer hatte Mädchen – das älteste war 13 – schwer missbraucht. 53 Fälle waren bekannt. In den Medien ist der Fall jedoch vollkommen untergegangen. Und ich habe gewusst: Ich werde Großmutter. Da habe ich mir gedacht: Du bist verantwortlich dafür, in welcher Welt deine Kinder leben und in welche Welt dein Enkelkind hineingeboren wird.
Sie haben in Ihrem Buch „Ski Macht Spiele“ Totalisierungstendenzen im Skisport angesprochen. Um welche Strukturen geht es?
Im Skisport findet die Sozialisation von jungen Leuten in einem geschlossenen System statt. Das läuft streng patriarchal ab. Wir haben im Skisport in der Ausbildung und in der Betreuung praktisch keine Frauen. Das öffnet Tür und Tor für Diskriminierung, für Sexismus. Dieser Machtmissbrauch ist bei ausgewogenen Strukturen schwieriger.
Warum gibt es so wenige Frauen im Skisport?
Man macht ihnen den Weg so schwer! In den USA und in Kanada unterstützen die Verbände die jungen Frauen, sie animieren sie, Trainerinnen zu werden. Davon sind wir in Österreich noch sehr weit entfernt.
Laut Ihrem Buch arbeiten auch Skifirmen mit den Verbänden zusammen. Wie darf man sich das vorstellen?
Das war in den 1970er- und 80er-Jahren so. Den Part der Skifirmen haben Leute wie Peter Schröcksnadel (Präsident des Österreichischen Skiverbands, Anm. d. Red.) übernommen. Die Firmen hatten früher das Sagen in dem sogenannten Skipool, in dem Gelder zusammenfließen, um Nachwuchsarbeit oder Rennlauf zu finanzieren. Als Schröcksnadel angefangen hat, als tragender Funktionär dort zu arbeiten, hat er erkannt: Das muss man zerschlagen. Was dann passiert ist: Er hat selbst sehr viel in die Hand genommen. Jetzt hat er gebündelt die wirtschaftliche Macht, die sich früher fünf, sechs Skifirmen untereinander ausgemacht haben. Das Monopol ist also noch größer geworden.
Was bedeutet das für den Skiverband?
Ich sage nicht, dass der Skiverband eine kriminelle Organisation ist. Aber er ist sehr ähnlich strukturiert wie eine Mafia. Es gibt einen absoluten Boss, der das Sagen hat. Bei ihm läuft alles wirtschaftlich zusammen. Es gibt an der Spitze zwei, drei Vertraute. Nach unten hin in der Hierarchie fließt immer weniger Information durch. Wer das Schweigen bricht, ist sofort Persona non grata.
Wie ein 16-Jähriger, der im vergangenen Jahr mit seinen Missbrauchserfahrungen an der Schladminger Ski-Akademie an die Öffentlichkeit gegangen ist.
Er war 15, als ihm das passiert ist. Seine Eltern haben Anzeige erstattet. Nach der Anzeige wurde er von den Mitschülern gemobbt. Er hätte gern an eine Schule gewechselt, wo er die Aufnahmeprüfung bestanden hatte. Die hat ihn nicht genommen. Es ist ihm psychisch überhaupt nicht gut gegangen, trotzdem ist er Rennen gefahren. Dann musste er noch einmal die Aufnahmeprüfung machen. Dort war er beim Skifahren vorn dabei, man hat ihm aber gesagt, er schaffe das „sportmotorisch“ nicht. Danach flog er aus dem Nachwuchskader des Landesverbands. Er hat den Traum ausgeträumt.
Bedeutet eine Anklage also das Karriereende?
Es bedeutet meistens wirklich das Karriereende. Deshalb machen es viele, so wie ich, erst nach dem Karriere-Ende öffentlich. Weil es auch nicht einfach ist, mit so etwas an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn man als junge Familie Kinder hat, die noch in der Schule sind.
Wen im Umfeld betrifft eine Anklage noch?
Alle natürlich! Meine Eltern waren Teil des Systems und die größten Arbeitgeber im Winter für unseren Ort. Und mein Bruder und ich waren ein wichtiger Teil des Marketings für unsere Skischule. Hätte ich gesagt: „Da ist was passiert“, hätte ich wirtschaftlich jemandem ins Knie gehaut.
Auch Anna Veith (österreichische Skirennläuferin, Weltmeisterin, Olympia- und Gesamtweltcup-Siegerin, Anm. d. Red.) hat einen Kampf gegen das System begonnen. Ich habe sie unterstützt. Dann habe ich die Mittel gesehen, die gegen sie eingesetzt werden. Da wird manipuliert, kleingemacht, mit subtilen Mitteln gezeigt: Uns Funktionäre wird es immer geben. Aber euch Sportler können wir austauschen. Nachdem sich Anna Veith unterordnen musste, hat sie sich im Training verletzt. Das passiert ganz oft.
Ich verstehe die Angst vieler, die auch nach Karriereende mit dem System zu tun haben und sagen: Nein, ich kann das nicht sagen.
Verletzungen können also auch psychische Ursachen haben?
Das Selbstwertgefühl, dieser Mut, das schützende Netz, das Spielerische, das Leichte, das einen umgibt, sind zerstört. Und wenn die Psyche verletzt ist, passiert es oft, dass der Körper nachzieht.
In Tirol untersuchte eine Expert_innenkommission die Vorfälle in den Sportschulen des Landes. Bildungslandesrätin Beate Palfrader und der Sportreferent der Tiroler Landesregierung, Josef Geisler, meldeten schließlich im Interview mit der „Tiroler Tageszeitung“: „Die Kommunikationsmängel sind behoben und wir haben heute auch einen anderen Zugang im Umgang mit sexualisierter Gewalt.“ Stimmt das?
Das würde allen Erfahrungen widersprechen. Wir müssen viel mehr auf Prävention setzen. Das finde ich ungemein wichtig. Im Sport wären gemeinsame Maßnahmen von allen Sportarten so wichtig. Junge Sportler_innen müssen wissen, welche Berührungen beim Training in Ordnung sind und welche nicht. Trainer_innen müssen wissen, wie sie mit Verdachtsfällen umgehen. Vor allem ist es wichtig, die Eltern aufzuklären. Wenn das Kind sagt, dass es nicht trainieren will, ist Hinhören wichtig!
Welche Rolle spielen die Eltern insgesamt in einer sportlichen Karriere?
Der Ehrgeiz der Eltern öffnet dem Missbrauch und der sexualisierten Gewalt Tür und Tor. Da ist das Kind plötzlich in einer sportlichen Leistungsgruppe und der Trainer sagt: Deine Tochter ist gut! Ich muss mit ihr extra trainieren! Da passiert das schlimmste Wegsehen.
Zur Aufklärung und Prävention von Machtmissbrauch im Sport haben Sie mit der Psychologin Chris Karl die Plattform „#WeTogether“ gegründet. Wozu braucht es den Verein?
Es ist ganz wichtig, dass Betroffene Anlaufstellen haben. Wir haben uns im Frühling 2018 in Köln getroffen, 72 Survivors. Diese 72 Sportler_innen sind dabei unterstützt worden, erstmals über ihre Geschichte zu reden und gemeinsam mit Mediator_innen zu den Zuständigen zu gehen. Das ist mit unterschiedlichem Wohlwollen von den Verbänden aufgenommen worden. Aber die Vernetzung ist wichtig.
Laut „Tiroler Tageszeitung“ gab es seit Dezember 2017 keine Meldungen mehr von Missbrauch in den Landessportschulen oder Internaten. Kamen bei Ihnen Meldungen an?
Es kam die Mutter von einem Betroffenen im Dezember 2018. Und ich bin mir sicher: Es schlummert noch viel im Verborgenen. Jetzt sind die Ersten rausgegangen. Das sind diejenigen, denen es schon gut geht. Die, denen es nicht gut geht, schämen sich noch immer.
Was hilft dabei, über das Erlebte zu sprechen?
Es braucht geschulte Expertinnen und Experten, die das verstehen. Ich hatte eine Kontaktaufnahme von einer Eiskunstläuferin in Deutschland. Sie war seit längerer Zeit in Therapie und ihre Therapeutin hat sie einfach nicht verstanden. Das ist nicht Schuld der Therapeutin. Wer das nicht erlebt hat oder sich damit nicht wirklich tief auseinandersetzt, kann das nicht verstehen.
Was hat #WeTogether bisher erreicht?
Wir stehen ganz am Anfang. Ich brauche Zeit, das zu strukturieren, dass wir uns europaweit vernetzen. Dann müssen wir Geld auftreiben, damit wir Expert_innen, Therapie, Prozessbegleitung anbieten können.
Nicht nur im Sport berichten Prominente über Machtmissbrauch und Übergriffe. Was kann die #MeToo-Bewegung insgesamt bewirken?
Der Sinn von #MeToo ist das, was wir mit unseren „Sisters and Brothers Survivors“ machen wollen. Es geht nur darum zu sagen: Es ist auch mir passiert. Das Schönste ist, wenn ich das zu jemandem sagen kann, der es versteht – weil es ihm oder ihr auch widerfahren ist. Die Sozialen Medien und der Hashtag sind nicht das Wichtige daran – sondern, dass man Vertrauen schafft, darüber zu reden.
Evangelista Sie ist Schreibtrainerin und Lektorin und studiert „Journalismus und Neue Medien“ an der FH Wien.
Nicola Werdenigg ist ehemalige Skirennläuferin, ihre größten Erfolge feierte sie in den 1970er-Jahren in der Abfahrt. 2018 wurde sie für ihren Einsatz gegen sexuelle Gewalt mit dem Frauenring-Preis ausgezeichnet.