Die österreichische Regierung plant Verschärfungen bei der Arbeitslosenversicherung nach dem Vorbild von Hartz IV, auch der Zugang zur Mindestsicherung wird verschärft. Nun soll ein Algorithmus künftig Arbeitslose in Gruppen mit unterschiedlichen „Integrationschancen“ einteilen. Von GABI HORAK
Das neue Arbeitszeitgesetz gilt seit 1. September und mit ihm gibt es nun die Möglichkeit, dass ArbeitnehmerInnen bis zu zwölf Stunden am Tag arbeiten – „freiwillig“. Bis zuletzt hat die Regierung die „Flexibilisierung“ als familienfreundliche Maßnahme propagiert, weil längere Freizeitblöcke für Familien ermöglicht würden. „Versorgungsarbeit ist allerdings eine tägliche Aufgabe und kann nicht flexibel von einem auf den anderen Tag verschoben werden“, sagt die Soziologin Claudia Sorger in der Zeitschrift der Österreichischen Plattform für Alleinerziehende. „Für AlleinerzieherInnen sind solche Tage gar nicht machbar, da Kinderbetreuungseinrichtungen – aus gutem Grund – keine 13-Stunden-Betreuung anbieten.“ Erste Berichte von Kündigungen haben nun dazu geführt, dass derzeit über Nachschärfungen des Gesetzes diskutiert wird.
Im Frühjahr hatte die Regierung ihre Pläne für verschärfte Regeln bei der bedarfsorientierten Mindestsicherung präsentiert (siehe an.schläge V/2018). Im Juni sollte ein Gesetzesvorschlag präsentiert werden, doch den gibt es bis heute nicht. Einerseits macht sich eine derart aggressive Maßnahme während der EU-Ratspräsidentschaft nicht gut, andererseits wird intern immer noch über Details verhandelt, und offenbar will man auf ausstehende höchstgerichtliche Entscheidungen warten. Von den Bundesländern selbst umgesetzte Änderungen bei der Mindestsicherung in Niederösterreich, Oberösterreich und im Burgenland werden nämlich allesamt vom Verfassungsgerichtshof geprüft. Die Deckelung in Niederösterreich wurde bereits aufgehoben.
Mehr Druck auf Arbeitslose. Auch eine andere Reform wurde auf 2019 verschoben: jene der Arbeitslosenversicherung. Das Einsparungspotenzial scheint doch nicht so groß zu sein, wie die Regierung erhofft hat. „Aber es steht im Regierungsprogramm, darum wird es wohl kommen“, glaubt Judith Pühringer, Geschäftsführerin von arbeit plus, dem Netzwerk gemeinnütziger, arbeitsmarktpolitischer Unternehmen in Österreich. Was ist geplant? Bei der Berechnung der Versicherungsleistung soll die Beschäftigungsdauer noch stärker als bisher berücksichtigt werden, sprich: Wer länger gearbeitet hat, bekommt auch länger Arbeitslosengeld. Und was kommt nach dem Arbeitslosengeld? Bisher ist das die Notstandshilfe, geringer als das Arbeitslosengeld, mit ähnlichen Anspruchsvoraussetzungen. Diese Notstandshilfe soll abgeschafft werden und die Menschen nach Ende des Arbeitslosengeldes sofort in die Mindestsicherung fallen, mit allen strengen Regelungen, die dazu gehören. „Sollte das System wie angekündigt kommen, gehen Schätzungen davon aus, dass 160.000 Menschen zusätzlich in die Armutsgefährdung rutschen“, sagt Judith Pühringer.
Als Schablone für die neue Arbeitslosenversicherung dient Hartz IV in Deutschland. Pühringer: „Hartz IV hat die Menschen massiv stigmatisiert und einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen.“ Das System basiert auf der Idee, dass Menschen schneller Arbeit annehmen, wenn sie in der nächsten Stufe weniger Leistungen erwarten. „Ich glaube nicht an die Stufentheorie“, sagt Judith Pühringer. „Es gibt keine validen Erkenntnisse, dass Menschen durch die Abstufungen der Leistungen auch schneller Arbeit annehmen.“ In Deutschland werden die Hartz-IV-BezieherInnen auch nicht weniger, sondern liegen bei konstant sechs Millionen, sagt der deutsche Sozialstaatsexperte Gerhard Bäcker in einem Interview mit der „Wiener Zeitung“. „Die Annahme, dass Arbeitslosigkeit vor allem ein Verhaltensproblem ist, war von vorneherein falsch – und das gilt bis heute.“ Auch der Ökonom Tom Krebs kommt zu dem Schluss, dass Hartz IV „aus gesamtwirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Sicht mehr geschadet als genutzt“ habe.
Deutschland gehe deshalb bereits langsam von diesem Weg ab, beobachtet Judith Pühringer. „Viele Erfahrungen zeigen: Mehr Sanktionen wirken nicht.“ Sie hofft, dass durch anhaltenden Druck „von unten“ die Einschnitte in der Arbeitslosenversicherung doch nicht so massiv ausfallen werden wie befürchtet.
Algorithmus berechnet Integrationschance. Aber auch beim Arbeitsmarktservice stehen einschneidende Veränderungen an. Ein neu entwickelter Algorithmus teilt Arbeitsuchende künftig in drei Kategorien ein und entscheidet so über Fördermittel. Allein die Tatsache, Frau zu sein, bringt Punkteabzüge. Das Gleiche gilt für Menschen, die „gesundheitlich beeinträchtigt“ sind sowie für Menschen über fünfzig Jahre. Betreuungspflichten verringern die Integrationschance ebenfalls – aber nur für Frauen. Bei Männern spielen sie keine Rolle. Das sei „eine bittere Wahrheit für Frauen, die sich im Chancenmodell widerspiegelt“, sagt einer der Autoren des AMS-Arbeitsmarktchancen-Modells, Michael Wagner-Pinter vom Forschungsinstitut Synthesis. Dieses hat im Auftrag des AMS den Algorithmus entwickelt: Menschen mit hohen, mittleren und niedrigen Chancen am Arbeitsmarkt. Ab 2020 werden sich Förderangebote an dieser Einteilung orientieren. Bei Personen mit hohen Chancen geht das AMS davon aus, dass weniger „Interventionsbedarf “ besteht. Die Förderungen werden sich auf jene Menschen in der mittleren Gruppe konzentrieren, weil hier die beste Wirkung erwartet wird. Für Menschen mit – laut Algorithmus – niedrigen Chancen soll es weniger und spezielle niederschwellige Angebote geben.
Diskriminierungsmechanismen werden nicht nur schulterzuckend akzeptiert, sondern auch noch dauerhaft festgeschrieben. Die Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt ist eigentlich ein gesetzliches Ziel des AMS. Fünfzig Prozent der Mittel müssen der Förderung von Frauen zugutekommen. „Das wurde zehn Jahre in Folge nicht erreicht“, berichtet Judith Pühringer, „aber immerhin gibt es das Ziel.“ Es sei off en, ob das in Zukunft auch noch gewünscht ist. Pühringer: „Es ist zu befürchten, dass weniger Geld für jene, die es brauchen, da sein wird.“ Offen sei beispielsweise, wie WiedereinsteigerInnen nach der Karenz in diesem System eingestuft werden.
Für Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser, ist der AMS-Algorithmus frauen- und menschenverachtend: „Die Starken werden weiter gestärkt und die Schwachen noch mehr geschwächt.“ Es werde unterstellt, dass es sich beispielsweise bei Frauen um eine homogene Bevölkerungsgruppe handelt. Hanna (Name von der Redaktion geändert) sieht das ähnlich. Sie ist 45 und arbeitssuchend. Ihr erster Gedanke zum AMS-Algorithmus: „Warum geht das System davon aus, dass alle Frauen von vornherein weniger Chancen haben? Das stimmt vielleicht für manche Branchen, aber doch nicht grundsätzlich.“ Sie selbst leidet derzeit unter ihrem AMS-Betreuer, fühlt sich ihm in den Vieraugengesprächen ausgeliefert. „Er ist ein frauenfeindlicher Chauvinist und behandelt mich extrem herablassend, das kann ein Computerprogramm auch nicht mehr schlimmer machen.“ Diese Entmenschlichung sei typisch für unsere Zeit, sagt Hanna. Eigentlich bräuchte es mehr persönliches und wertschätzendes Miteinander – nicht weniger.