Genetische Forschung kann befreiend wirken: Die afroamerikanische Sozialwissenschaftlerin ALONDRA NELSON über medizinische Diskriminierung und das soziale Leben der DNA. Interview: LEA SUSEMICHEL
an.schläge: Unser Interview findet am Tag nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA statt. Wie geht es Ihnen als US-Bürgerin, als kritischer Schwarzer Sozialwissenschaftlerin?
Alondra Nelson: Was derzeit in Europa passiert, hat Trumps Sieg nahegelegt. Auf rationaler Ebene bin ich also eigentlich nicht überrascht – aber emotional bin ich trotzdem schockiert. Ich war schon oft mit Kandidaten konfrontiert, mit denen ich ideologisch nicht übereingestimmt habe. Aber es ist das erste Mal, dass ich durch jemanden repräsentiert werden soll, der durch seine misogynen und rassistischen Äußerungen klar gemacht hat, dass er Frauen und People of Color missachtet, dass er mich als Person nicht respektiert.
Sie haben ein Buch über den Kampf der Black Panther Party gegen medizinische Diskriminierung geschrieben. Wie sah dieser Kampf aus? Und konnte Obamacare die medizinische Apartheid endgültig beenden?
Die Black Panther haben nicht nur gegen Rassismus und rassistische Polizeigewalt gekämpft, sondern sich auch um ganz konkrete Hilfestellungen bemüht. Denn trotz des allmählichen Abbaus der Segregation in den USA waren AfroamerikanerInnen weiterhin grundlegende Menschenrechte wie das auf Nahrung verwehrt, es mangelte an Essen, Unterkunft, Kleidung, aber eben vor allem auch an Gesundheitsversorgung. Die Black Panther versuchten deshalb, diese Dinge für ihre Communitys selbst zu organisieren.
Auch wenn es mit Obamacare jetzt ein Recht auf Gesundheitsversorgung für alle gibt, kann der Staat nicht garantieren, dass es keine Diskriminierung gibt und jede/r auch wirklich gut behandelt wird. Dennoch ist die große Errungenschaft von Obamacare, dass es nun endlich eine allgemeine Übereinkunft darüber gibt – wenn auch auf einem sehr niedrigen Niveau –, dass alle Menschen ein Recht auf medizinische Versorgung haben. Es gerät leicht in Vergessenheit, dass noch vor zehn Jahren viele Menschen diese Versorgung nicht hatten – und dass viele daran nichts falsch fanden. Ich hoffe, dass man dorthin jetzt nicht so einfach wieder zurückfallen kann.
Ihr neuestes Buch trägt den Titel „The Social Life of DNA“ und beginnt mit der Schilderung der genetische Ahnenforschung vieler AfroamerikanerInnen ab Mitte der 1960er. Wieso wurde Genealogie so wichtig?
Zum Teil war die Black-Power-Bewegung verantwortlich. Um der rassistischen Abwertung ein „Black is beautiful“ entgegenzusetzen, kam es zu einer intensiven Beschäftigung mit afrikanischer Kultur, afrikanischer Philosophie, afrikanischer Essenkultur. In den 1970er-Jahren gab es zudem das Alex-Haley-Phänomen, der mit seinem Buch „Roots“ einen Trend zur Suche nach den afrikanischen Wurzeln auslöste. Doch Ahnenforschung war in vordigitalen Zeiten natürlich eine sehr mühevolle Archivarbeit, die für viele unmöglich zu bewerkstelligen war. Als das „Human Genome Project“ begann, wollten wir zuerst mithilfe von Genetik Fragen der Vergangenheit beantworten. 2003 gründete der afroamerikanische Genetiker Rick Kittles das Unternehmen African Ancestry, um DNA-Tests für genealogische Forschung zu nutzen.
Es besteht die Hoffnung, dass genetische Ahnenforschung auch bei der Klage hinsichtlich Sklaverei-Reparationszahlungen genutzt werden kann. Bislang hat sich das vor Gericht jedoch als nutzlos erwiesen. Wo liegt das Problem?
2002 gab es eine Sammelklage für Reparationszahlungen gegen multinationale Konzerne wie Philip Morris, die von der Sklaverei profitiert haben. Die Strategie der Verteidigung bestand unter anderem darin zu behaupten, die KlägerInnen könnten nicht nachweisen, dass sie Nachkommen von SklavInnen sind. Daraufhin brachten diese das genetische Beweismaterial ihrer Ahnenforschung ein. Das Gericht wies dies allerdings damit zurück, es sei nicht spezifisch genug. Stattdessen wurde verlangt, das Verwandtschaftsverhältnis zu einer ganz bestimmten historischen Person nachzuweisen. Außerdem müsse belegt werden, dass diese Person beispielsweise auf dem Schiff eines bestimmten Unternehmens nach Amerika gebracht wurde. Das ist eine gewaltige, um nicht zu sagen unüberwindbare Hürde.
Die Vorstellung von Identität als einer essenziellen Wahrheit – egal, ob geschlechtlich oder ethnisch begründet – wird heute radikal infrage gestellt. Läuft eine positive Bezugnahme auf genetische Ahnenforschung nicht Gefahr, die Idee von „Rasse“ erneut festzuschreiben?
Natürlich, potenziell tut sie das! Die Genetik soll uns sagen, wer wir sind – das ist gefährlich. Aber im Unterschied zur rassistischen Wissenschaft wird die Genetik heute nicht dazu genutzt, Menschen in einem hierarchischen System auf ihren Platz zu verweisen, sondern sie entscheiden sich selbst für private Ahnenforschung, weil sie diese Technik für hilfreich und befreiend halten. Und die Menschen partizipieren nicht allein dadurch, dass sie ihr genetisches Material zur Verfügung stellen, sondern interpretieren und nutzen es auf sehr unterschiedliche Weise für ihre eigene Biografie. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, aber wir müssen uns auch ehrlich eingestehen, dass wir heute an einem anderen historischen Punkt angelangt sind. Und wir müssen der politischen Komplexität von Genetik Rechnung tragen.
Ein besseres Verständnis von Genetik eröffnet viele neue Möglichkeiten für medizinische Behandlungen, Gendermedizin fragt z. B. nach spezifisch weiblichen Gesundheitsrisiken – was ja erst einmal eine sehr gute Sache ist. Aber wie lässt sich dieses Bemühen mit der Tatsache zusammenbringen, dass Geschlecht und Ethnie letztlich Konstruktionen sind und keine biologischen Fakten?
Wenn immer nur an Cis-Männern geforscht wurde und das ein Gesundheitsrisiko für Frauen darstellt, dann wollen wir natürlich, dass sich das ändert! Aber eben nicht um den Preis, dass damit etwas Falsches über eine biologische Identität ausgesagt wird. Das betrifft auch die genetische Ahnenforschung: Alles, was in diesem Zusammenhang über ethnische Zugehörigkeit gesagt wird, ist eine wissenschaftliche Konstruktion, die auf der Grundlage von Algorithmen und statistische Vorannahmen gemacht wird, zum Beispiel darüber, was genetische Marker zu bedeuten haben. Doch dieser Konstruktionscharakter wird meist unterschlagen und stattdessen so getan, als sei alles Genetische auch wahr und wissenschaftlich – das wären eben die harten Fakten, z. B. von Geschlechtsidentität.
Sie fordern eine neue Bioethik, die dem „gesamten sozialen Leben der DNA“ gerecht wird. Was ist damit gemeint?
Im Unterschied zu vor 150 Jahren nutzen wir die Genetik in vielen unterschiedlichen Bereichen: in der Medizin, bei der Fortpflanzung, bei der Ahnenforschung oder der Kriminaltechnik. Genetik spielt also in den unterschiedlichsten Bereichen unseres Lebens eine Rolle – das nenne ich das soziale Leben der DNA. In den USA definiert die Bioethik aber nur rein medizinische Rahmenbedingungen, legt also zum Beispiel fest, wie PatientInnen oder ProbandInnen behandelt werden sollen. Doch für genetische Ahnenforschungo der das Strafjustizsystem gibt es keinerlei ethisches Regulatorium. Eine neue Bioethik muss dem Umstand Rechnung tragen, dass die aus genetischem Material gewonnenen Daten durch alle Bereiche unseres Lebens wandern können. Denn die DNA-Probe eines Menschen kann mehrfach verwendet werden: Du kannst eine Probe beim Arzt abgeben, die zugleich etwas über deine Herkunft aussagt oder die kriminaltechnisch genutzt werden kann.
Es gibt eine sehr lange Geschichte des Rassismus in der medizinischen Forschung. Mit welchen Auswirkungen davon haben wir heute noch zu kämpfen?
Es genügt nicht, für das Recht zu kämpfen, dass alle Menschen, die medizinische Versorgung brauchen, diese auch bekommen. Denn wegen unserer Geschichte von medizinischer Diskriminierung und wissenschaftlichem Rassismus haben viele Menschen ein gehöriges Misstrauen gegenüber medizinischer Forschung, aber auch gegenüber medizinischem Personal. Präventionsmedizin kann Leben verlängern, aber viele gehen weder zu Vorsorgeuntersuchungen noch stellen sie sich für Testreihen zur Verfügung.
Durch meine Arbeit will ich diese Probleme sichtbar machen – aber auch zeigen, dass es trotz unserer grauenhaften Geschichte auch AfroamerikanerInnen gibt, die die Chance ergreifen, und Medizin und Forschung für Empowerment und Befreiung nutzen.
Alondra Nelson ist die für ihre wissenschaftliche Arbeit vielfach ausgezeichnete Dekanin der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Columbia University in New York. Sie publizierte u. a. „Body and Soul: The Black Panther Party and the Fight against Medical Discrimination“ sowie „The Social Life of DNA: Race, Reparations, and Reconciliation After the Genome“.