Kaum ein Gebiet der Naturwissenschaft ist so reich an Metaphern wie die menschliche Befruchtung, keinen anderen Zellen werden so eindeutige Charaktereigenschaften zugeschrieben wie Eizelle und Spermium. Ein Ausflug in die Zellbiologie mit LEONIE KAPFER.
„A dormant bride awaiting her mate’s magic kiss.“(1) Diese Textstelle stammt nicht aus den Gebrüdern Grimms „Schneewittchen“, sondern ist einem wissenschaftlichen Paper entnommen. Und die Metapher des Biologen-Ehepaars Gerald und Helen Schatten ist keine Ausnahme: Ei und Spermium stehen in der Wissenschaftsgeschichte seit jeher für das zellgewordene „Weibliche“ und „Männliche“. Stereotype Vorstellungen von Geschlecht(errollen) wurden so 1:1 in die biologische Wissenschaft übertragen.
Passiv, träge und immobil. Die Eizelle wurde zur „passiven“ und „trägen“ Empfängerzelle – ohne dass dafür hinreichende Beweise vorgelegen wären. Sie habe keine Möglichkeit zur Fortbewegung und würde durch die Eierstöcke „transportiert“, heißt es seit der Entdeckung des Follikelsprungs 1842. Habe sie diese passiert, warte sie auf die Samenzelle, denn nur diese könne sie „vor der Degeneration retten“. Obwohl auch die Lebenszeit eines Spermiums begrenzt ist, gehen Lehrbücher bis heute nur auf den Verfall der Eizelle ein: „Ihre Zeit ist begrenzt, sie hat nur 24 Stunden Zeit, sich mittels eines Spermiums in ein menschliches Wesen zu verwandeln.“ Wenn dann „der Retter in Not“ endlich kommt, würde es aber erst richtig ungemütlich für die Eizelle. Sie sei dann einem „Aggressor“ ausgesetzt, der mit „aller Kraft“ versuche, in sie „einzudringen“ und ihren „Schutzmantel zu durchbohren“. Die männlichen Samenzellen würden auf dem Weg durch das „weiche, dunkle Unbekannte keine Furcht“ kennen, „flink“ und „agil“ folgten sie ihrer „heldenhaften Mission“. Der Lohn der „erfolgreichen Penetration“ der Eizelle durch das Spermium: die Entstehung eines neuen Menschen.(2)
Links, rechts, links, rechts. Dieses gewaltvolle Bild der Befruchtung ist zwar längst widerlegt, hält sich aber noch immer in den Köpfen vieler Menschen. Die Wissenschaft musste sich bereits Ende der Achtzigerjahre von diesem Märchen verabschieden: Als sie an einem Verhütungspräparat für den Mann forschten, merkten die Wissenschaftler_innen, dass Spermien entgegen der Lehrmeinung keinen Drang zur Vorwärtsbewegung haben. Die einzige Bewegung, die die Forscher_innen erkennen konnten, war ein Ausschlag der Samenzellen nach links und rechts. Wie konnte ein so unmobiles Spermium die Vagina passieren und dann die Eizelle penetrieren? Ebenso verwunderlich war, dass Spermien den Kontakt mit Oberflächen meiden. Mit diesen recht eindeutigen Ergebnissen war die bisherige Lehrmeinung zur Befruchtung nicht mehr zu halten.
Weitere Studien zeigten, dass Eizelle und Spermium für eine Befruchtung über zahlreiche, bis heute noch nicht restlos geklärte Mechanismen interagieren müssen. Die Eizelle ist dabei sehr aktiv; ihre Hülle ist nicht nur ein Schutzwall gegen Spermien, der einer Befruchtung dadurch eher hinderlich ist, sondern eine hochdifferenzierte Oberfläche, die verschiedene bio-chemische Aufgaben wahrnimmt. Eine davon ist, mittels eines Stoffes Samenzellen anzulocken. Die Verbindung von Spermium und Eizelle funktioniert anschließend über ein sogenanntes Zelladhäsionsmolekül – ein Molekül, das den Zusammenhalt und die Kommunikation zweier oder mehrerer Zellen vermittelt.
Passive Rezeptoren, aktive Liganden. Wirklich ändern konnten diese Erkenntnisse an der wissenschaftlichen Vorstellung des aktiven Spermiums und der passiven Eizellen jedoch wenig. Denn als es darum ging, die Bindungsstellen auf Ei- und Samenzelle zu benennen, tappten die ForscherInnen erneut in die Falle klassischer Geschlechterstereotypen. Ein kleiner Exkurs in die Biochemie: Bei biochemischen Verbindungen gibt es immer einen Rezeptor, der aus einem Protein besteht und eine kleine „Tasche“ für die Bindung besitzt, sowie einen Liganden, der an diese Tasche bindet. Die Bindung findet nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip statt, wobei der Rezeptor als Schloss gilt, der Ligand als Schlüssel. Als es nun darum ging, den Rezeptor bei der Bindung von Ei und Spermium ausfindig zu machen, wurde entgegen wissenschaftlicher Praxis das Ei als Rezeptor ausgemacht – obwohl die Proteinbindungsstelle wie auch das „Täschchen“, in das die Eizelle bindet, am Spermium lokalisiert wurden. Die Bezeichnung der Eizelle als Rezeptor wird bis heute verwendet.
Femme Fatale oder Mutti. Mittlerweile – zwanzig Jahre nach der Entdeckung des komplexen Befruchtungsvorgangs – spricht die Biologie der Eizelle zwar mehr Aktivität zu, vor der Übertragung stereotypisierter Weiblichkeitsbilder auf körperliche Strukturen ist sie aber bis heute nicht gefeit. In neueren Fachbüchern wird vermehrt das Bild der „Femme Fatale“ oder aber der „fürsorglichen Mutter“ zur Beschreibung der Zelle verwendet. Die Vorstellung, dass Eizelle und Sperma schlicht pluripotente Zellen ohne Charaktereigenschaften sind, ist für die Biologie offenbar zu abwegig.
Gegenwärtige Beschreibungen der Eizelle zeichnen demnach das Bild einer sexuell aggressiven Frau, die eine Bedrohung für den Mann darstellt: Die Eizelle fange das Spermium mittels chemischer „Lockstoffe“, binde und mache es „unbeweglich“ und verschlinge es dann. Dabei verliere das Spermium seinen Schwanz (nur im Kopf des Spermiums ist Erbgut enthalten). Zugleich muss die Eizelle für das Stereotyp der „schützenden Mutter“ herhalten: Nachdem bekannt wurde, dass manche Stellen an der Oberfläche der Eizelle intakte Samenzellen identifizieren und am Binden hindern können, wurde dies mit dem „Bestreben“ der Eizelle gleichgesetzt, nur den „besten Partner ausfindig zu machen“, um „Schaden“ vom entstehenden Leben fernzuhalten.
Eizellen? Unbegrenzt! Neben überholten Befruchtungsfantasien muss sich die Wissenschaft nun von einem weiteren Märchen über die Eizelle verabschieden: Letztes Jahr konnte eine Gruppe US-amerikanischer Wissenschaftler_innen belegen, dass auch erwachsene Frauen Eizellen nachproduzieren können. Bisher war die Lehrmeinung, dass eine Frau mit einer bestimmten Anzahl an Eizellen geboren werde. Wie die Forscher_innen aber zeigen konnten, verfügt auch der weibliche Organismus – ebenso wie der männliche bei den Samenzellen – über die Möglichkeit, pluripotente Stammzellen in den Eierstöcken nachzuproduzieren, die sich dann eventuell zu Eizellen differenzieren können. Der Mythos der ständig vom Verfall bedrohten weiblichen Eizellen könnte somit ebenso bald der Mottenkiste der Wissenschaft angehören.(3)
Fußnoten:
(1) Eine schlafende Braut wartet auf den magischen Kuss ihres Partners“, in: Gerald and Helen Schatten: The Energetic Egg. Medical World News 23, 1984
(2) Alle Zitate entstammen wissenschaftlichen Papern oder Fachbüchern und sind hier nachzulesen: Emily Martin: The Egg and the Sperm: How science has constructed a romance based on stereotypical male-female roles. In: Signs, Journal of Woman in Culture and Society, 1991
(3) Jonathan Tilly u.a.: Oocyte formation by mitotically active germ cells purified from ovaries of reproductive-age women. In: Nature Medicine 18, 2012
2 Kommentare zu „Eizelle und Samenzelle: Eine Märchenstunde“
Erweiterung zur Märchenstunde
Man sollte sich eingedenk sein, dass die geschlechtliche Fortpflanzung zu einer einzelnen Zelle (befruchtete Eizelle, Zygote) führt und das der Beitrag des Mannes zu dieser einen Zelle ein einzelnes Spermium ist.
Die einzige Besonderheit der geschlechtliche Fortpflanzung ist die genetische Modifikation (Variation).
Das Spermium ist kein Same, da sich dieser erst aus einer befruchteten Eizelle bildet. Eine hervorragende Metapher wäre die Blastozyste, die sich in den Mutterkuchen einnistet, so wie ein botanischer Same es im Bezug zum Boden tut.
Das Spermium kann qualitativ nicht mehr als Zelle beschrieben werden. Das separate und komprimierte Genom und die maximale Reduktion des Zytoplasmas verhindern, dass das Spermium die typischen Zellfunktionen ausführen kann.
Aus diesem Grund benötigt das Spermium eine Wirtszelle, genauso wie ein Virus eine Wirtszelle benötigt. Da das Spermium wie auch das Virus der Wirtszelle lediglich genetisches Material übertragen, ist es das Genom selber, das eine Wirtszelle benötigt.
Das heißt, dass zu der Vererbung der Gene zusätzlich eine dazu passende Zelle bereitgestellt werden muss, da das Genom eine Zelle nicht selber herstellen kann.
Der Mann vererbt seine Gene mittels eines Spermiums, das in den weiblichen Organismus verfrachtet wird, wo das Spermium sein genetisches Material der Eizelle übergibt und dabei auch seine Existenz beendet.
Die Frau vererbt ihre Gene mittels einer Eizelle, die allerdings im weiblichen Organismus verbleibt und auch ihr genetisches Material behält und bei Erfolg der geschlechtlichen Fortpflanzung auch ihre Existenz bewahrt.
Die Gene, die von Mann und Frau vererbt werden, befinden sich in jenen Zellen, aus denen die Spermien und Eizelle gebildet werden. Diese Zellen vererben ihren zelleigenen Genbestand und führen auch eigenständig die Reduktionsteilung ihrer selbst durch, sodass der Genbestand jeweils halbiert wird.
Der metaphorische Gebrauch der aktiven Verben „ fortpflanzen“ und „vererben“ kann man nur im Bezug zum Verhalten des Spermiums anwenden. Die Begriffe „geschlechtliche Fortpflanzung“ und „Vererbung der Gene“ sind direkt und einseitig vom Spermium abgeleitet worden.
Die Aussage „Von zwei einzelnen Zellen und ihren Genbeständen wird eine Zelle eigenständig gebildet und zwar ohne Einwirkung der menschlichen Organismen im Bezug zur genetischen Ausstattung der entsprechenden Zelle (befruchtete Eizelle)“ ist die nicht-metaphorische Version der geschlechtlichen Fortpflanzung.
Einerseits wird die menschliche Fortpflanzung geschlechtlich genannt, was ich so verstehe, dass Männlein wie Weiblein gleichwertig daran beteiligt sind. Doch in der Beschreibung derselben wird der Mann als einziger Protagonist dargestellt, sodass ich mich dazu aufgefordert sehe, die Theorie der geschlechtlichen Fortpflanzung daselbst zu hinterfragen. Und siehe da…
Wer also daran Interesse hat, der schaue auf meinen Blog http://reproduktion-fortpflanzung-vererbung.blogspot.de nach.