Meine Schwester und mich trennen acht Jahre. Meine Schwester und mich verbindet, dass wir über denselben Unsinn lachen können, dieselben Memes aus denselben Reality-Shows kennen. Dass uns dieselbe unbegründete Angst überkommt, nachts, wenn die Dielen knarren und plötzlich jedes Geräusch schaurig wird. Dass wir uns am Familientisch ohne Worte verstehen, dass wir gemeinsam die Augen verdrehen und zum Gegenwort ansetzen, wenn der Onkel mal wieder etwas Sexistisches sagt. Ich lese Renate Welshs zuletzt erschienenes Buch „Ich ohne Worte“. Welsh und mich trennen zwei Generationen, doch uns verbindet der Umstand, Schwester zu sein. Sie schreibt: „Eine Schwester hat man nicht, eine Schwester ist man. So wie man groß ist oder klein, blau- oder braunäugig, hier oder dort geboren, an dem oder jenem Tag. Man kann die Schwester beneiden, bedauern, bemitleiden, bewundern, man kann mit ihr streiten, hadern, kann einer Meinung sein, kann sie für hoffnungslos verbohrt halten, man kann ans andere Ende der Welt flüchten oder ständig zusammenhocken, man kann sie lieben oder verfluchen. Nur eines kann man nicht: aufhören, Schwester zu sein.“ Ich lese den letzten Satz nochmal und erinnere mich: Mitten in der Nacht aufbrechen, um die jüngere Schwester von einer Party abzuholen, ihr schreiben: „Ich lasse mein Handy die ganze Nacht auf laut, ruf mich jederzeit an, wenn du was brauchst“, sie für ein paar Monate in meinem WG-Zimmer zu haben, als es zu Hause unaushaltbar wird, sie bei Liebeskummer zu trösten, sich sorgen, die Sorgen nicht abstellen können, selbst wenn es keinen Grund für sie gibt. Aber auch: sich streiten, sich nicht aushalten können, Abstand suchen, für eine Zeit abtauchen.
Ich lese weiter: „Selbst nach der unverzeihlichsten Kränkung, nach der schlimmsten Ungerechtigkeit ist man Schwester. Also ist die einzig vernünftige Lösung, über alle Abgründe hinweg beide Hände auszustrecken. Wenn wir Glück haben, werden sie ergriffen. Leere Hände frieren.“ Meine Schwester und mich trennen acht Jahre. Meine Schwester und mich verbindet vieles. Naomi Lobnig
Renate Welsh: Ich ohne Worte. Czernin Verlag 2023, 21,- Euro