Selim Akmese arbeitet als forensischer Therapeut mit verurteilten Tätern. Lea Susemichel und Brigitte Theißl haben ihn gefragt, wieso Männer gewalttätig werden und was es braucht, um das zu ändern.
an.schläge: Wie konkret sieht Ihre Arbeit mit Gewalttätern aus?
Selim Akmese: Die Arbeit im forensischen Bereich besteht aus wöchentlichen Terminen, die der Therapeut mit dem Insassen/Klienten hat. Dabei geht es, vereinfacht ausgedrückt, hauptsächlich um Delikt-Einsicht und Verantwortungsübernahme, um neue Konfliktlösungsstrategien und die Entwicklung von Empathie mit den Opfern. Das Setting unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen Psychotherapie-Sitzungen. Auch hier ist sehr wichtig, eine tragfähige Beziehung für die therapeutische Arbeit aufzubauen.
Die meisten Insassen erlebe ich als sehr compliant (Anm.: Compliance meint Therapietreue, also die bereitwillige Mitarbeit und das Einhalten der therapeutischen Maßnahmen).
Meiner Erfahrung nach waren den meisten Gewalttätern die Konsequenzen und die Reichweite ihrer Taten nicht bewusst. Wenn sie realisieren, was sie anderen Menschen angetan haben, beginnt eine Phase der Reue. Ob diese Reue authentisch ist, zeigt sich später. Denn eine Therapie bringt für einen Insassen nicht nur den Vorteil der persönlichen Auseinandersetzung, sondern oft auch Haft-Lockerungen.
Wer sind die Männer, mit denen Sie arbeiten?
Ich habe zum Beispiel den Fall eines Familienvaters (ein Akademiker), der wegen dreifachen Mordes verurteilt ist. Er ist mit seinen Kränkungen und Ängsten, verlassen zu werden, nicht fertig geworden. Vor sich selbst versuchte er jedoch lange Zeit, seine Tat religiös zu begründen und als vorherbestimmtes Schicksal zu rechtfertigen. Er ist im Maßnahmenvollzug (Anm.: So wird die Unterbringung von Rechtsbrecher:innen mit psychischen Erkrankungen bezeichnet). Mittlerweile distanziert er sich von diesen Erklärungen und setzt sich mit dem Delikt auseinander. Therapeutisch herausfordernd wird es, wenn es keine Verantwortungsübernahme gibt oder die Tat überhaupt geleugnet wird. Natürlich wird es auch schwieriger, wenn eine psychiatrische Diagnose als Risikofaktor existiert, die mitunter auch die Einsicht erschwert.
Wie schwer fällt es Ihnen, empathisch auf solche Täter einzugehen? Braucht es überhaupt Empathie, um therapeutisch gut mit Tätern arbeiten zu können?
Zunächst ist wichtig klarzustellen: Wenn man Empathie mit dem Täter hat, bezieht sich die Empathie nicht auf das Delikt, sondern auf die Person, die einem gegenübersitzt. Zu verstehen, warum der Täter diese Tat begangen hat, ist enorm wichtig. Wenn Empathie also die Fähigkeit und Bereitschaft meint, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu verstehen, ist sie für den therapeutischen Prozess wichtig. Es braucht einerseits eine Beziehung mit dem Täter, aber auch eine Neutralität, die es erlaubt, Distanz zu wahren.
Meine Erfahrung zeigt mir, dass man im forensischen Bereich nicht unbedingt immer Empathie braucht, um mit einem Insassen gut zu arbeiten. Zu viel Empathie kann für den therapeutischen Prozess manchmal sogar hinderlich sein.
Männliche Gewalt hat nichts mit dem sozialen Status zu tun und Gewalttäter finden sich in allen Gesellschaftsschichten. Lassen sich dennoch Gemeinsamkeiten feststellen? Haben Gewalttäter zum Beispiel selbst oft Gewalt erlebt oder unter autoritären Vätern gelitten?
Das stimmt, Gewalttäter finden sich in allen Bevölkerungsschichten und haben auch ganz unterschiedliche Bildungsniveaus. Vom Akademiker bis zum Analphabeten, von Familienvätern bis zum Einzelgänger habe ich ganz unterschiedliche Männer in Behandlung. Dementsprechend gibt es auch unterschiedliche Motive für die Taten.
Obwohl sie auch unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben, ist vielen aber tatsächlich gemeinsam, dass in ihrer Kindheit Gewalt als Erziehungsmethode eingesetzt wurde. Viele haben bisher aber gar nicht als Gewalt definiert, was sie selbst erlebt haben, vor der Therapie haben sie sich selbst nie als Opfer von Gewalt gesehen. Das hat natürlich mit herrschenden Männlichkeitsbildern zu tun. „Ein Mann wird nicht zum Opfer“ ist die Devise. Und nicht nur in den Familien, sondern auch in staatlichen Institutionen wie Schulen, Heimen oder beim Militär wurde bzw. wird Gewalt verherrlicht und als Methode eingesetzt. Es sind auch Männer dabei, die aus Krisen- oder Kriegsgebieten stammen, für sie hat Gewalt eine ganz andere Normalität. Die deutliche Positionierung des Therapeuten gegen jede Form von Gewalt und besonders gegen männliche Gewalt gegen Frauen hilft, einen klaren Rahmen zu schaffen.
Sie arbeiten mehrsprachig, auch auf Kurdisch und Türkisch, welche Vorteile hat das in der therapeutischen Arbeit?
Die Muttersprache bietet einen besseren Zugang zu einem Menschen, das ist bei der Täterarbeit nicht anders als in der normalen Psychotherapie. Oft ist es essentiell, auf die Wortwahl, auf Redewendungen und Begrifflichkeiten zu achten. Diese geben uns wichtige Informationen über die innere Welt und die Motivationen des Täters, sprachliche Feinheiten sind aus therapeutischer Sicht also sehr wertvoll. In unserer Muttersprache steckt auch unsere Sozialisation mit allen Erfahrungen, Wertvorstellungen und Denkmustern, da finden sich oft auch unausgesprochene und unbewusste Erklärungen für die Tat.
Wie sind die Erfolgsaussichten?
Studien belegen, dass Psychotherapie im forensischen Bereich, also bei Gewalt, eine gute Rückfallprophylaxe darstellt. Dabei ist wichtig, dass in der Therapie ein Prozess startet, der sich mit den dysfunktionalen persönlichen Anteilen befasst, damit eine gewisse Delikteinsicht erreicht wird und auch die volle Verantwortung für die Tat (ohne Wenn und Aber) übernommen wird. Es muss außerdem auch eine Emotionsregulation und ein neuer Umgang mit den Emotionen stattfinden.
Männliche Gewalt endet im schlimmsten Fall tödlich, das zeigt die erschreckende Femizid-Statistik in Österreich. Was wären dringend nötige Präventivmaßnahmen, um Männergewalt zu beenden? Wo ist hier die Politik säumig?
Ja, leider. Im Jahr 2023 gab es 27 Femizide und 51 Mordversuche in Österreich. Das sind schreckliche Zahlen. Es braucht politische und gesellschaftliche Strategien, um hier etwas zu verändern. Neben dem Ausbau der Frauen- und Opferschutzarbeit sollte dabei der gewaltpräventiven Männerarbeit mehr Aufmerksamkeit zukommen, für die opferschutzorientierte Täterarbeit braucht es unbedingt mehr finanzielle Ressourcen. Die Politik muss bessere Rahmenbedingungen schaffen, das tut sie nicht mit der nötigen Entschlossenheit.
Immer wieder begehen Männer Femizide, die schon vorher etwa polizeiliche Wegweisungen erfahren haben. Gibt es hier Lücken bei der Täterarbeit? Wie gut kann es überhaupt gelingen, die Gefährlichkeit von Tätern einzuschätzen?
Mit der verpflichtenden Beratung nach einem Betretungsverbot, die seit einigen Jahren in Kraft ist, wurde ein wichtiger Schritt unternommen, um vor allem Hochrisikofälle besser erkennen zu können. Aber viele Männer hängen nach den bloß sechs Stunden verpflichtender Beratung in der Luft. Hier braucht es längere und intensivere Interventionen, die viele Männer benötigen, um nicht rückfällig zu werden. Etwa in Form der Antigewalttherapie (AGT) in der Männerberatung, die sehr erfahrene Kolleg:innen durchführen. Es gibt dabei viele Instrumente, um die Gefährlichkeit eines Täters gut einschätzen zu können.
Aktuell fährt das Sozialministerium die Kampagne „Mann spricht’s an“ gegen männliche Gewalt. Gesamtgesellschaftlich ist Männergewalt und deren Prävention kaum Thema. Wie schätzen Sie die Bedeutung bzw. Wirkung von Kampagnenarbeit und medialer Verhandlung des Themas ein?
Öffentlichkeits- und Bewusstseinsarbeit ist ein sehr wichtiger Baustein, um Männer für das Thema zu sensibilisieren. Die Kampagne des Ministeriums ist auf jeden Fall gut und wichtig, auch die Arbeit z. B. von White Ribbon Österreich, die männliche Zielgruppen mit Öffentlichkeitsarbeit direkt ansprechen. Männer sind sich vieler Gewaltformen oder auch eigener Privilegien nicht bewusst, es braucht deshalb männerspezifische Interventionen. Sie sind umso notwendiger, weil antifeministische Aktivitäten im Internet in den vergangenen Jahren sehr stark zugenommen haben.
Die gesellschaftliche Ächtung von Tätern wie Teichtmeister ist groß, in solchen Fällen wird – vor allem von rechts – gerne auch mal die Todesstrafe gefordert. Mal abgesehen davon, dass es um unterschiedliche Delikte geht: Wie erklären Sie sich die Diskrepanz zwischen so einer Dämonisierung einerseits und der Bagatellisierung von Übergriffen in vielen anderen mutmaßlichen Fällen (Rammstein, Johnny Depp, Depardieu etc.) andererseits?
Ja, auf der einen Seite gibt es die soziale Ächtung von Gewalt, wenn sie der eigenen Agenda dient, ein anderes Mal wird diese Gewalt offensiv geleugnet. Ich denke, das sind zwei Seiten der gleichen patriarchalen Medaille: einmal die gewaltvoll-autoritär strafende Seite und andererseits jene Seite, die die eigenen Privilegien und Gewaltformen leugnet. Die hegemoniale toxische Männlichkeit hat Strukturen etabliert, die sie schützt. Diese Machtstrukturen, die auf Unterdrückung aufbauen, müssen beseitigt werden.
Wir werden Gewalt in allen Formen nur erfolgreich bekämpfen können, wenn wir als Gesellschaft wesentlich reflektierter und auch selbstkritischer mit dem Thema umgehen – und vor allem die Perspektive der Gewaltbetroffenen in den Mittelpunkt stellen.
Selim Akmese ist Mitarbeiter der Männerberatung im Bereich der Gewaltprävention (Projekt META – mehrsprachige Täterarbeit). Er ist außerdem im Bereich der forensischen Psychotherapie in der Justizanstalt Stein tätig.