Über die wahren Snowflakes und ihre Safe Spaces. Von Lea Susemichel
„Ich leide, also bin ich.“ Das sei der neue Leitsatz, behauptet der Journalist Matthias Lohre in seinem Buch, das den programmatischen Titel „Das Opfer ist der neue Held – Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben“ trägt. Menschen würden sich zunehmend durch ihre Verletzungen definieren, so die These. Ein erfolgreich reklamierter Opferstatus erweise sich so paradoxerweise als neuer Vorteil im Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung. Lohres Kritik reiht sich nahtlos ein in die derzeit allgegenwärtige Klage vom vermeintlichen „Opfercontest“, den unterschiedliche Minderheiten unermüdlich miteinander ausfechten würden. Von „Snowflakes“ oder „Kampfmimosen“ ist dabei die Rede, die sich nicht mehr über strukturelle Ungerechtigkeiten empörten, sondern nur noch über „Mikroaggressionen“ und „Cultural Appropriation“, und die sich allesamt am liebsten nur noch in ihre „Safe Spaces“ zurückziehen würden. Vorgebracht wird diese Kritik in aller Regel von weißen Männern (freilich gibt es wie immer Ausnahmen), die ihrerseits recht empfindlich – um nicht zu sagen: mimosig – auf diese Kategorisierung reagieren.
„Sensibles Selbst“. Die Herren beklagen eine „Gesellschaft der Singularitäten“(so der Erfolgstitel des Soziologen Andreas Reckwitz) und diese Gesellschaft sei nun nicht alleine durch die Erosion von Solidargemeinschaften und neoliberale Entsolidarisierungsprozesse geprägt. Zudem sei es zu einer Fragmentierung sozialer Bewegungen in unzählige Kleinstgruppen gekommen, die sich jeweils nur noch mit ihrer individuellen Diskriminierungserfahrung beschäftigen würden. Reckwitz spricht überdies von einer neuen Überempfindlichkeit des Subjekts, einem „sensiblen Selbst“. „Die Sensibilisierung des Subjekts war und ist zunächst ein fortschrittlicher Prozess – mittlerweile droht er aber destruktiv zu werden“, behauptet Reckwitz, denn Negativität und Ambivalenz sollen nun möglichst ausgeschlossen werden.
Als Beispiele werden in diesem Diskurs Triggerwarnungen in Lektüreseminaren genannt oder auch vorverurteilende Social-Media-Shitstorms, mit denen Menschen öffentlich an den Pranger gestellt würden. „Identitätspolitik“ ist dabei das viel strapazierte Buzzword, das den seit Jahrzehnten so beliebten reaktionären Kampfbegriff der „Political Correctness“ abgelöst oder zumindest effektiv ergänzt hat. Doch in beiden Fällen handelt es sich um den Versuch, demokratiepolitisch unverabschiedbare emanzipatorische Politiken zu diskreditieren und zu delegitimieren. Denn die Vorwürfe sind meist nichts anderes als eine neue Form des Victim Blaming, mit dem Forderungen nach mehr Gleichheit und Gerechtigkeit abgewehrt werden sollen.
Stärke, nicht Schwäche. Um dies gleich vorwegzunehmen: Natürlich gibt es auch berechtigte Kritik an Identitätspolitik. Etwa wenn diese zur bloßen Repräsentationspolitik verkommt oder als Immunisierungsstrategie gegen Kritik missbraucht wird (wenn also z. B. Hautfarbe und Hormonstatus wichtiger sind als die politische Position des_der Sprechen- den). Und natürlich kann Identitätspolitik kollektive Organisierung manchmal tatsächlich erschweren. Aber grundsätzlich – und das kann angesichts des aktuellen Bashings nicht oft genug betont werden – bildet die identitätspolitische Kritik von Minderheiten dennoch gerade die Stärke und eben nicht die Schwäche linker Bewegungen. Sie ist dem Kampf um soziale Gerechtigkeit nicht entgegengesetzt, sondern im Gegenteil aufs Engste mit diesem verbunden. Schließlich will linke Identitätspolitik Marginalisierungen überwinden, um gemeinsam für größere Gerechtigkeit – selbstverständlich auch soziale und ökonomische – für immer mehr Menschen einzutreten. „Identitätspolitische“ Organisationen wie feministische Vereine, LGBTIQ-Verbände oder Antidiskriminierungsinitiativen, die sich für Minderheitenrechte und eine gerech- tere Gesellschaft einsetzen, haben den gesellschafts- und geschlechterpolitischen Wandel der vergangenen Jahrzehnte entscheidend befördert. Und angesichts des scharfen reaktionären Gegenwinds, der diese „Identitätspolitik“ immer schon verlässlich begleitet hat, können sich deren AktivistInnen übergroße Empfindlichkeiten definitiv nicht leisten. Ihre Arbeit fällt zudem zumeist durch einen langen Atem und viel Idealismus und weit seltener durch überspannte Grabenkämpfe auf.
Posterboy Weinstein. In die viel beschworene „Opferkonkurrenz“ scheinen sich vielmehr die Klagenden zu begeben und dabei kurzerhand einen Opferstatus für sich selbst einzufordern. Es ist die Selbstviktimiserung des „alten, weißen Mannes“, für den die ganze Welt bislang ein Safe Space war (und meist weiterhin ist). Als bislang unmarkierter Standard mit Universalismusanspruch erlebt er die ungewohnte Identifizierung und Herausforderung als tiefe Kränkung. Quasi als Posterboy für diese Täter-Opfer-Verkehrung muss dieser Tage wohl Harvey Weinstein gelten, über den es in einem „New York Times“-Artikel heißt: „He thinks he’s the victim. He doesn’t blame himself for anything.“ Snowflake ist dafür gar kein Ausdruck. •