Antipsychiatrische und feministische Kritik an der Psychiatrie gehen nicht weit genug. Ein Plädoyer für eine queere Psychiatriekritik. Von CORINNA SCHMECHEL
Psychiatriekritik ist in der Linken kein großes Thema (mehr). Das zeigt sich aktuell an der Marginalität der Kampagne gegen die Pathologisierung von Trans*Menschen („StopTrans*pathologisierung 2012“) (1). Leider hat sie zumindest im deutschsprachigen Raum selbst innerhalb der politischen Queer-Szene – also Kreisen, welche die theoretische wie praktische Kritik an heterosexistischen Zweigeschlechternormen und deren permantenter (Re)produktion im Fokus haben – kaum Beachtung gefunden (2). Dabei bietet sie das große Potenzial, die zu Unrecht vergessene Kritik an der Institution Psychiatrie und dekonstruktivistische Geschlechterpolitik anhand konkreter und für viele Menschen alltäglich bedeutsamer Beispiele zu verbinden und damit auch die Institution Psychiatrie wieder in das Blickfeld queer-feministischer Politiken zu integrieren.
Anders als normal. „Der Wahnsinn existiert nur in einer Gesellschaft, er existiert nicht außerhalb der Formen der Empfindsamkeit, die ihn isolieren, und der Formen einer Zurückweisung, die ihn ausschließen oder gefangen nehmen.“ Diese These Michel Foucaults kann als Grundlage aller psychiatriekritischen und antipsychiatrischen Schulen und Bewegungen gesehen werden. Sie besagt, dass psychiatrische Gesundheits- und Krankheitsdefinitionen nicht ohne ihre gesellschaftliche, politische und soziale Umwelt verstanden werden können. Dies wird anhand ihrer historischen Inkonsistenz sichtbar, die sich in psychischen Diagnosen wie z.B. der Homosexualität der Drapetomanie – dem „krankhaften“ Wandertrieb schwarzer Sklav_innen, der zur ständigen Flucht vor ihren weißen Herren führte (3) – oder der „Hysterie“ zeigt.
Psychiatrisches Wissen ist ein wesentliches Instrument gesellschaftlicher Normierung; psychiatrische Diagnosen definieren Verhalten und Charaktere als „(un)normal“ und wirken dadurch sozial stigmatisierend. In Form juristisch legitimierter Zwangsbehandlung entwickeln sie eine enorme Wirkmacht. Demnach stellt die Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin und gesellschaftliche Institution ein relevantes Thema für emanzipative Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie dar.
Im Rahmen moderner Macht- und Herrschaftsstrukturen wird der_die „Irre“ als „Anderes“ konstruiert, über das sich die „normale“ Identität definiert. Nicht-Funktionieren und/oder Nicht-Einpassungsvermögen wird durch psychiatrisches Wissen in den Bereich des „Kranken“ verschoben, wo es jenseits gesellschaftlicher Ursachen im psychiatrisierten Individuum selbst verortet wird. Dies war und ist die gesellschaftliche Funktion der Psychiatrie, die nicht von ungefähr ihren Ursprung in den Zucht- und Arbeitshäusern hat: Sie (re)produziert soziale Ordnung.
Frei- und -willig? Aufgabe der Psychiatriekritik ist es, die Begriffe der „Krankheit“ (inklusive allen enthaltenen Setzungen von „gesund“, „normal“, „problematisch“ usw.) und „Heilung“ (als Zurechtkommen in aktuellen gesellschaftlichen Umständen) infrage zu stellen – ohne dabei individuelles Leiden und Hilfebedürfnisse auszublenden. Demgemäß steht die Erweiterung der Perspektive auf die gesellschaftlichen Umstände als mögliche Ursache des individuellen Leidens im Fokus. Oft wird gegen antipsychiatrische Positionen vorgebracht, dass viele Menschen „freiwillig“ eine psychiatrische Behandlung in Anspruch nehmen würden. Dieses Argument hält aber einer Analyse von Macht nicht stand: Denn moderne Macht zeichnet sich besonders dadurch aus, dass Menschen freiwillig tun, was von ihnen gewünscht wird. Basis dieser Freiwilligkeit sind Normierungsprozesse, die festschreiben, was als „normal“ und damit als erstrebenswert gilt, und was „unnormal“ und damit zu vermeiden bzw. zu bekämpfen ist.
Das „andere“ Geschlecht: Feministische Psychiatriekritik. Der Zusammenhang von moderner kapitalistischer Arbeitsethik und der psychiatrischen Institution und Disziplin wurde von psychiatriekritischen Theoretiker- wie Aktivist_innen verschiedener Strömungen vielfach herausgearbeitet.(4) Wenig beachtet wurde bisher hingegen die Bedeutung von Geschlecht für die Psychiatrie sowie die Rolle, die der psychiatrische Diskurs für das moderne Geschlechterarrangement spielt. Wie jede Wissenschaft vom „Menschen“ unterliegt sie einem u.a. androzentrischen Bias, der den zugrunde gelegten „normalen Menschen“ weiß, „abled“ und männlich denkt. Im Rahmen der westlichen modernen vergeschlechtlichten Binarität von Natur/Kultur, gesund/krank, rational/emotional usw. positioniert psychiatrisches Denken „Frauen“ und „Weiblichkeit“ automatisch bzw. systemimmanent auf die Seite des Pathologischen und Defizitären. Eine Studie von Inge Broverman verdeutlichte dies schon in den 1960ern: Psychiater_innen sollten eine Liste von Adjektiven und Beschreibungen erstellen, die aus ihrer Sicht eine gesunde Persönlichkeit auszeichnen würden. Einige sollten einen „normalen Mann“, einige eine „normale Frau“ und andere einen „normalen Erwachsenen“ beschreiben. Ergebnis: Die Eigenschaften des „normalen Mannes“ waren mit denen des „normalen Menschen“ identisch, während die der „normalen Frau“ davon abwichen. Es wurde z.B. die intensive Beschäftigung mit dem eigenen Äußeren für Frauen als „normal“, für Erwachsene allgemein aber als „unnormal“ eingestuft. Eine „normale Frau” ist demnach stets schon aus dem Bereich der allgemeinen Normalität gedrängt.Als Instanz zur Durchsetzung gesellschaftlicher Ordnung und biopolitisches Instrument thematisiert Psychiatrie Geschlecht und Sexualität auch ganz direkt, indem Gender-Konformität und normative Heterosexualität als Elemente psychischer Gesundheit postuliert werden bzw. indem Non-Konformität hier klar als Marker für oder gar gleich als Kern psychiatrischer „Störungen“ betrachtet wird.Dies ist Dreh- und Angelpunkt der im Rahmen allgemeiner antipatriarchaler Gesellschafts- und Wissenschaftskritik entstandenen feministischen Psychiatriekritik (5). Doch so bedeutsam und wichtig diese Kritik grundlegend war und ist, so tappte sie doch selbst oft in die Falle binärer essenzialistischer Geschlechterkonstruktionen, auch lässt sie teilweise eine tiefgehende Kritik an der Institution und Disziplin Psychiatrie vermissen. Eine tatsächlich emanzipative Perspektive muss radikale Kritik am Geschlechtersystem und an der Psychiatrie zusammen denken, um den gewaltförmigen Charakter der Psychiatrie auch als Herstellungs- und Sicherungsinstanz der Zweigeschlechternorm begreifen zu können.
„Falsche“ Geschlechter? Binarität queeren. Eine queerere Kritik an der Psychiatrie vertritt z.B. die Kampagne zur Streichung der Diagnose „Geschlechtsidentitätsstörung“ aus den internationalen Krankheitskatalogen DSM und ICD. Die bislang diagnostizierte „Geschlechtsidentitätsstörung“ orientiert sich klar an einem binären Geschlechtersystem. Damit stellt sie für Menschen mit dem Bedürfnis nach Transitionsbehandlung perᴀder Weise gleichzeitig unterdrückendes Stigma und Mittel zum Ziel dar. Um Transitionsmaßnahmen bewilligt und finanziert zu bekommen, müssen Trans*-Menschen „nachweisen“, dass sie das stigmatisierende Label der psychischen Störung akzeptieren. Dazu müssen sie klassisch zweigeschlechtliche Muster bedienen: Wer Östrogen verschrieben haben möchte, der_dem sei geraten, als Kind lieber mit Puppen als Autos gespielt zu haben; wer Testosteron möchte, hat hoffentlich noch nie freiwillig ein Kleid getragen. Zwar bietet die Diagnose der „Geschlechtsidentitätsstörung“ eine Möglichkeit, über „korrigierende“ Maßnahmen der psychiatrischen Pathologisierung zu entkommen. Über das Konstrukt einer Diagnose des „Im-falschen-Körper-Seins“ wird eine eindeutige Einordnung erreicht – für viele ein positiver und gewünschter Schritt. Jedoch werden damit dualistische Strukturen und die Verknüpfung von (Geschlechts-)Körper und Geist weiter stabilisiert. Eine Identität jenseits der geschlechtlichen Bipolarität ist im psychiatrischen Diskurs (noch) nicht denkbar. Die Behandlung vom Leiden an der zugeschriebenen Geschlechtsrolle ist nur im Rahmen einer „Anpassung“ an die „andere“ Geschlechtsidentität möglich – unter Einhaltung eines starren Leidensnarratives, das eine generelle Ablehnung beider vorhandener Geschlechter und eine Verortung außerhalb dieser nicht zulässt. Das Ergebnis einer gelungenen „Heilung“ ist immer eine „eindeutig“ männliche oder weibliche Person. Dies gilt es zu kritisieren und ein Recht auf alle Maßnahmen und medizinischen Versorgungen zu erstreiten, dessen Menschen bedürfen, ohne das Stigma einer „psychischen Störung“ und das erzwungene Einordnen in binäre Geschlechtervorstellungen.
Corinna Schmechel lebt und studiert Gender Studies in Berlin und ist seit Langem in queer-femistischen und z.T. antipsychiatrischen Zusammenhängen aktiv. Der Artikel beruht auf ihrer BA-Arbeit „‚… die Aufgabe, Röcke zu tragen …‘ Zum Zusammenhang moderner Geschlechterordnung und der Institution Psychiatrie“ (genderini.files.wordpress.com/2010/12/schmechel_corinna.pdf) und dem Artikel „Wahnsinn und Geschlecht. Plädoyer für eine queere Psychiatriekritik“ (phase-zwei.org/hefte/artikel/wahnsinn-und-geschlecht-37/ ).
Fußnoten:
(1) Siehe bspw. stp2012.info
(2) Eine Demonstration der STP 2012-Kampagne mit mehreren tausend Teilnehmenden, wie 2010 in Barcelona, ist in Deutschland fast unvorstellbar.
(3) Die Beschreibung dieser „Krankheit“ geht auf das 1851 erschienene Werk „Diseases and Pecularities of the Negro Race“ von Samuel A. Cartwright zurück.
(4) Psychiatrie wird in diesen Analysen als Instrument gesellschaftlicher Ordnung verstanden, das sich an der Integrierbarkeit von Menschen in kapitalistische Wertschöpfungsprozesse orientiert und historisch vor allem dazu diente, Arme, Bettler_innen und Arbeitsverweigernde zu sanktionieren, auszuschließen und nach Möglichkeit verwertbar zu machen und deren Einweisungs- und Behandlungspraxen stets ein Teil sozialer und ökonomischer Machtstrukturen sind. Siehe z.B. Ronald Laing, Thomas Sazs, David Cooper, Franca Ongaro Basaglia und Franco Basaglia, Robert Castel, Dirk Blasius, Michel Foucault.
(5) Zu empfehlen sind hier die Werke von Elaine Showalter, Phyllis Chesler sowie Sybille Duda und Luise Pusch. Eine feministische Kritik an der feministischen Psychiatriekritik, u.a. an diesen Autor_innen, übt Anette Schlichter in ihrem Werk „Die Figur der verrückten Frau“.
1 Kommentar zu „Don’t pathologize this“
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