Am offenen Grab zeigt sich: Geschlechterklischees machen auch vor dem Tod nicht halt. Von Clarissa Breu, evangelische Theologin in Wien.
Er sitzt mir gegenüber und sagt nichts. Ich frage, ob er nicht doch noch etwas erzählen möchte über seine verstorbene Frau: „Hatte sie markante Eigenschaften? Gibt es irgendwelche typischen Sprüche oder Anekdoten? Was hat sie denn gerne gemacht?“
„Nein, keine Eigenschaften. Eine gute Hausfrau war sie; kein Alkohol, keine Gewalt. Alles gut“, sagt er und schaut mich entgeistert an.
Ungefähr so verlief eines meiner ersten Trauergespräche in der dreijährigen Ausbildung zur evangelischen Pfarrerin. Und es sollte nicht das Einzige dieser Art bleiben. Denn die Lebensläufe der Generation von Frauen, die derzeit hauptsächlich beerdigt wird, sind einander in der Darstellung ihrer Partner und Söhne überraschend ähnlich.
Wenig Persönliches. Vor jeder Beerdigung steht für evangelische Pfarrerinnen ein solches Trauergespräch an. Die Familie, oder wer immer sich dazu berufen fühlt, kommt für ein Gespräch vorbei oder wird zu Hause besucht. Der Ablauf, die Musik und andere Details werden geklärt, aber im Zentrum steht die Trauer. Wir sprechen über den Abschied und versuchen, Persönliches über die verstorbene Person zu erfahren. Viele Familien rechnen gar nicht damit, dass ich die Beerdigung persönlich gestalten möchte. Ihr Bild von Kirche entspricht eher einer Sünden-Kontrollinstanz, deren Ziel es ist, herauszufinden, was alles falsch läuft in ihrem Leben. Das Vertrauen gegenüber kirchlichen Gesprächspartnerinnen ist grundsätzlich also gering, man sagt lieber zu wenig als zu viel. Auch das mag ein Grund sein, warum so wenig Persönliches über Verstorbene erzählt wird.
Und dennoch lernte ich mit der wachsenden Zahl an Trauergesprächen, dass es eventuell eine ganze Generation von eigenschaftslosen Frauen gibt. Die Frauen, die derzeit im hohen Alter sterben, werden zu einem erstaunlich hohen Prozentsatz mit denselben Attributen und Lebensläufen bedacht: Die Mama hat zwar eine bestimmte Ausbildung, manchmal sogar ein Studium, aber dann kamen die Kinder. Und sie hat halt so gern gekocht! Sie war immer für uns da, hatte stets ein offenes Ohr und hat uns sogar in der Nacht noch belegte Brötchen hingestellt. Ein Kollege, dem ich das erzähle, ergänzt: „Und ihren Garten hat sie so geliebt!“ Nicht nur ich mache also diese Erfahrung.
Leben für die Kinder. Je mehr Gespräche ich führte, desto mehr verfestigte sich der Eindruck, dass es sich um eine Generation von Frauen handelt, die wenige Hobbys, wenige Interessen, wenige markante Eigenschaften zu haben scheint, weil ihr ganzes Tun und Wirken den Kindern gewidmet ist. Die persönliche Verwirklichung fand im Garten oder in der Küche statt, also in der Arbeit für andere. Denn es gab ja schon einen, der Hobbys hatte und Freunde traf und außer Haus aktiv war: den Vater. Der hat viel gearbeitet. Der war immer im Wirtshaus. Der war nie da.
Aber nicht nur die Darstellung der verstorbenen Frauen ist meist ähnlich, sondern auch das Setting der Gespräche. Es ist meist derselbe, der spricht, organisiert, mit der Mappe und dem Autoschlüssel in der Hand auftritt: der Mann in der Rolle des Partners, Sohnes oder Ehemanns der Tochter. Die anwesenden Frauen sind offenbar von Gefühlen überwältigt und sprechen wenig. Die Männer nehmen die Sache in die Hand, um nicht in ihre Gefühle abzustürzen, aber damit liegt bei ihnen auch die Definitionsmacht. Etwa damals, als die Schwiegertochter erst ein wenig später dazukommt. Sie entschuldigt sich, sie habe noch in der Küche etwas vorbereiten müssen. Dann schweigt sie wieder, während über sie gesprochen wird: „Die beiden haben schon so ihre Probleme gehabt. Naja, Sie wissen ja, wie Frauen so sind.“
„Nein, weiß ich nicht“, denke ich, aber kann es nicht sagen. Ich sage: „Es wird schon Gründe gegeben haben“ – die sicher auch mit seiner Rolle im Gefüge zu tun haben, ergänze ich in Gedanken. Und: Irgendwie logisch, dass es schwierig ist, ein Leben lang mit den Schwiegereltern im selben Haus zu leben.
Gewesen sein. Die Beerdigung selbst geht dann meist doch allen sehr nahe. Aber viele Männer können keine Tränen zulassen. Der eine entzieht sich, indem er von Anfang bis Ende den Organisator spielt, der andere hält sich an einem Energydrink fest. Ich denke an die feministische US-Autorin Diane Elam, die über die Repräsentation von Frauen schreibt: Die Schwierigkeit liege darin, Frauen so zu repräsentieren, wie sie gewesen sein werden, statt immer wieder dieselben Klischees zu reproduzieren darüber, wie sie vermeintlich sind. Ich versuche das in meinen Predigten über Männer und Frauen umzusetzen, viel Raum für offene Bilder und eigene Gedanken zu lassen, zu betonen, dass nur Gott alle Facetten eines Menschenlebens überblicken kann, dass unsere eigene Sichtweise nur ein kleiner Ausschnitt ist.
Und es geht weiter nach der Beerdigung, in den Gesprächen über die noch lebenden Frauen. Der eine sagt: „Na, ich esse sicher eine Torte, meine Frau darf keine essen, die braucht ja die Bikinifigur für die Malediven!“ Ein anderer kommt mir immer näher und sagt: „Stellen Sie sich vor, Frau Pfarrer, ich hatte sechzig Frauen. Das war nicht einfach.“ Ich rücke mit meinem Sessel ein wenig weiter weg. „Weil ich eine Putzfirma gehabt hab. Aber glauben Sie mir, da ist es zugegangen!“
Das Phänomen der Gender-Performance macht auch vor dem Tod nicht halt. Es setzt sich fort in der Art, wie wir trauern, in der Art, wie wir über Verstorbene erzählen, in der Art, wie wir Beerdigungen organisieren, in der Art, wie wir mit der Pfarrerin sprechen, wenn der formelle Teil vorüber ist. Es tröstet mich, dass die Beerdigung nicht das letzte Wort über ein Leben hat, dass die Repräsentation eben nur Repräsentation ist und dass das, was jemand gewesen sein wird, nicht feststeht. Ich beerdige die Menschen in die Weite Gottes hinein. Und die Hoffnung stirbt zuletzt, dass Frauen und Männer irgendwann vielfältige Lebensläufe und Eigenschaften haben dürfen, die in dieser Vielfalt auch wahrgenommen werden.
Clarissa Breu, 1986 in Wien geboren, wurde 2020 zur evangelischen Pfarrerin ordiniert und arbeitet derzeit mit einem Stipendium an einem Habilitationsprojekt im Bereich der neutestamentlichen Wissenschaft.
13 Kommentare zu „Die Frau ohne Eigenschaften“
Vielen Dank für diesen wichtigen Denkanstoss! Klischees im Kinderzimmer haben wir dank der Rosa-Hellblau-Falle von Almut Schnerring und Sascha Verlan sehr präsent, aber dass die Klischees auch nach dem Tod noch zuschlagen… Wir werden alle profitieren, wenn ein Leben jenseits der Geschlechterstereotype möglich ist.
Vielleicht liegt es auch an der Art der Fragen oder der nicht-Reaktion? Genau in dem Moment des” nein weiß ich nicht, denke ich…
Gehört doch eine Frage, die tiefer geht und nach den Problemen und Fähigkeiten der Frau fragt. Mit ungewöhnliche Fragen kommt man dann der Frau näher. Ich habe bislang keine Frauen ohne Eigenschaften beerdigt…
Schuld sind die falschen Fragen?!? Danke fürs Mansplaining des Beitrags. Vielleicht ist eher der Fokus auf die falschen Werte einer Frau Schuld?
Sehr wichtiger Text und die Frage ist, wie kommt man da raus? Ich stelle interessanter Weise fest, dass Männer – Ehemänner, Söhne, (Schwiegersöhne sind in der Regel nicht anwesend) – kaum sprechen und dies gelegentlich auch begründen: Das kann meine Frau (=Schwiegertochter, fast immer anwesend, da sie organisiert) / unsere Tochter / meine Schwester besser. Und auch den sozialen Teil der Organisation (Sarg, Lieder, Blumen, Beerdigungskaffee, wer wird eingeladen, wer bringt den Kuchen hinterher zur Pfr.n etc.) übernehmen die Frauen.
Besser, man fragt die Kinder nach den Eigenschaften der Mutter. ICH weiß von ihrem handwerklichen Geschick, ihrer Offenheit, Ihrer Neugier, auch anderen Lebensformen gegenüber. Wie viel lustiger war sie, als sie selbst Geld verdiente. Ich wäre mit 27 und Mann und Kindern auch hoffnungslos überfordert gewesen. Das zu schaffen, war ja normal. Ich weiß nicht, wann das mit dem Alkohol begann. Zigaretten, Alkohol und Fernsehen. Das waren ihre Freiräume. Sie war gereizt und genervt und jähzornig. Wir haben sie gefürchtet. Mein Vater hat nicht mitbekommen, dass die Kinder heftig geschlagen wurden, dass sie ängstlich und verstört waren. Später hat er auch nicht mitbekommen, dass die Wohnung verdreckt war, dass sie in Mengen Alkohol trank. Wie kann einer, der immer weg gegangen ist und nie hingeschaut hat, wie es seinen Liebsten geht, von deren Eigenschaften sprechen?
Nach mehr als 500 Trauerfeiern, die ich selbst entwickelt und gesprochen habe, habe ich nicht den Eindruck, dass Frauen von der Famllie nicht in ihren ganz besonderen Eigenschaften wahr genommen werden. Ausnahmen bestätigen jede Regel. In der Tat, das geduldige, empathische und erlernte “Ab-” Fragen ist die Kunst. Als erstes gilt es Vertrauen zu vermitteln, denn das was da “aus der Familie über die Ehefrau und Mutter hinausgetragen wird” muss stimmig, behutsam und gut übermittelt in der Öffentlichkeit einer Trauerfeier ankommen. Dass ich als Redner oder Pfarrerin das versprechen kann und auch durch meine Person vermittle, das ist wichtig. Irgend ein “G”- Problem kann ich da überhaupt nicht entdecken, es sei denn, man macht die uralte Tatsache, dass “Männer ganz anders sind als Frauen” zum Problem.
Irgendwie amüsant.
Da wundert sich doch tatsächlich eine evangelische Pfarrerin dass das indoktrinierte Rollenbild der Frau, so wie es in der Bibel vorgeschrieben wird (Frau hat nichts zu melden, bleibt zu Hause, kümmert sich nur um die Kinder und den Garten, während der “Hausherr” machen kann, was er will) so tief in den Leuten verankert ist, die dann zu ihr kommen für eine religiöse Bestattung. Und wundert sich dann über die Auswirkungen und dass das bei der nachfolgenden Generation ebenfalls so ist……XD
Ich habe schon viele Menschen beerdigt. Auch viele von den Frauen, um die es scheinbar in dem Beitrag geht. Es war keine dabei, die keine Eigenschaften hat. Vielleicht hängt es auch immer mit der Art und Weise zusammen wie man fragt und wie man hört. Ich habe schon viel erfahren, wie sich die Frauen und der Kriegs- und Nachkriegsgeneration ihre Platz im Leben gesucht haben und ihn auch ausgefüllt, so wie es wollten oder damit gehadert haben und darüber auch mit ihren Söhnen und Töchter im Gespräch waren. Ich habe viele Männer erlebt, die den Part des Erzählers gerne übernommen haben und manche sogar froh waren, dass in dem Gespräch zu dürfen.
Interessant. Denn das entspricht nicht meiner Erfahrung, weder in norddeutschen Dörfern noch in einem südafrikanischen Kleinstadt-Township. Aber wientypisch scheint es auch wiederum nicht zu sein.
Ich stehe erst einmal staunend vor dem Artikel.
Die Klischees sind da und ein Problem. Aber da gibt es auch noch ein anderes Thema, evtl. Thema der aktuellen Generation. Auf dieser Erde leben aktuell 8 Milliarden Menschen . Dass sich da Lebensläufe gleichen, ist naheliegend. Das kränkt den modernen Wunsch nach Individualität und Einmaligkeit. Die Herausforderung ist vielleicht – zugegeben auch für mich als Pfarrerin kurz vor dem Ruhestand- das Wertvolle im sich Wiederholenden zu finden.
Oh, ich (17 Jahre Pfarrerin in der Großstadt, 16 Jahre eher in der Provinz) kann diese Erfahrung so gar nicht teilen.
Ich stelle mit Erschrecken und Freude fest, dass unsere Familie da wohl nicht gewöhnlich ist. Bei uns teilen auch die Männer ihre Gefühle mit und weinen, wenn ihnen danach ist. Mein Vater weniger, aber bei wenn die Emotionen stark waren dann eben doch. Nachteil ist, dass es viel Reibung und laute Diskussion gibt. Das ist oft anstrengend, dafür bleibt weniger ungeklärt und ungesagt. Aber vielleicht sind es diese Reibungen vor denen sich viele schützen wollen, weil sie nicht die Fähigkeiten, den Willen oder die Kraft zu offenen Konflikten haben?
Diese Erfahrung mache ich auch (seit fast 40 Jahren im Pfarramt), freue mich über jede Frau, die eine berufliche Biografie hat oder ein Engagement im Verein (oft im Verein des Ehemannes), benenne das Besondere ihres Lebens oder eben das “Opfer” und ich kümmere mich darum, dass Frauen, wo es möglich ist, auch eine Rede bei der Beerdigung bekommen: neulich die langjährige Putzfrau der Kirchengemeinde oder eine, die den Seniorenkreis mitgeleitet hat. Und ich schreibe Nachrufe für die Zeitung und den Gemeindebrief. Und ich ermutige und unterstütze die gegenwärtigen Frauen, bei einer Beerdigung zu sprechen, denn das überlassen sie leider allzu gern den Männern. Lasst uns Frauen sichtbar machen!