Wir lernen von unserer Mutter, was Liebe ist, sagt die Therapeutin und Autorin CLAUDIA HAARMANN. Warum die Mutter-Tochter-Beziehung trotzdem oft so schwierig ist, wollte LEA SUSEMICHEL wissen.
an.schläge: Ein völlig konfliktfreies Verhältnis haben die wenigsten Frauen zu ihren Müttern. Woran liegt das?
Claudia Haarmann: Die Konflikte zwischen Müttern und Töchtern sind gut und notwendig. Ihr Verhältnis ist durch die Gleichgeschlechtlichkeit bestimmt: Ich will als Mädchen zunächst so werden wie meine Mutter und bin sehr identifiziert mit ihr. Bis irgendwann in der Pubertät die Frage auftaucht: „Und wer bin ich? Ganz sicher bin ich eine andere als meine Mutter!“ Und dafür braucht es unbedingt Abgrenzungen, die natürlich Konflikte schaffen. Die entscheidende Frage ist, wie die Mutter mit der Abgrenzung umgeht, ob sie die Abnabelung akzeptieren kann.
Was sind die Gründe für die zerstörten Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern, die Sie in Ihrem neuen Buch „Kontaktabbruch“ beschreiben?
Ich frage oft: „Wie alt warst du bei deiner ersten Liebe?“ Die meisten Menschen denken dann an ihren ersten Schwarm im Teenageralter. Aber die erste große Liebe ist die zur eigenen Mutter – und diese Bindung beginnt schon im Mutterleib. Mit dieser ersten Bindung lernen wir, wie Liebe sich anfühlt. Wir wissen heute, dass sich dem Kind schon in der Schwangerschaft vermittelt, ob seine Mutter in der Lage ist, mit ihm in liebevollem Kontakt zu sein.
Das ist aber eine immense Bürde für Mütter, wenn sie fürchten müssen, dass selbst ihre Stimmungen in der Schwangerschaft dem Kind schon Schaden zufügen können.
Ja, ich gebe Ihnen vollkommen recht, das kann belasten. Doch in der Schwangerschaft wird das Fundament für das Leben des Kindes gelegt. Das heißt natürlich nicht, dass in der Schwangerschaft immer alles glücklich und harmonisch laufen muss, aber das Kind muss sich sicher und angenommen fühlen.
Mein vielleicht wichtigstes Anliegen ist, dass wir aus dem Mutter-Tochter-Verhältnis das Thema Schuld herausbekommen müssen! Denn es ist niemand schuld, wenn etwas schiefläuft. Das Leben ist einfach so! Und es gibt gute Gründe, wenn eine Mutter etwas nicht gut hinbekommt.
Aber wie kommt es nun zu diesen schweren Zerwürfnissen?
Meiner Meinung nach ist ein Grundproblem in diesen Beziehungen, dass die Töchter ihr „Ich bin anders als Du“, ihre Autonomie, nicht wirklich haben leben dürfen. Es gab nur das „Wir“ – „wir gehören doch zusammen!“ Zerstörten Beziehungen liegt oft zugrunde, dass die Mutter einen Mangel in ihrer eigenen „Liebesgeschichte“ durch das Kind kompensieren will. Sie „überliebt“ es sozusagen. Grundsätzlich muss das Kind aber die Erfahrung machen, dass es verstanden wird, dass ihm geholfen wird, dass es dann aber auch wieder gehen darf. Von einem sicheren Hafen aus darf es die Welt entdecken, denn Liebe bedeutet beides: Ich darf meiner Mama nahe sein und ich darf gleichzeitig ICH sein.
Ein anderes Extrem ist, wenn die Mutter von ihrer eigenen Mutter keine Nähe und keinen Körperkontakt bekommen hat und deswegen selbst auch keine Nähe geben kann. Es gibt also beides: zu viel und zu wenig Nähe.
Einerseits wird zwar den Müttern gerne die Verantwortung für alle psychischen und auch sonstigen Probleme ihrer Kinder zugeschoben, andererseits ist es ein großes Tabu, dass Mütter auch Täterinnen sein können, die nicht nur selbstlos lieben, sondern ihren Kindern mitunter grausame Dinge antun. Wie kommt es zu dieser so ambivalenten gesellschaftlichen Bewertung von Mutterschaft?
Es gibt nichts, was nicht auch zwischen Müttern und Töchtern passiert. Ich arbeite mit Bindungstraumatisierungen und bin immer wieder entsetzt, was in Familien passiert, wie viel Entwürdigung dort stattfindet. Dennoch weiß ich, dass keine Mutter ihrem Kind bewusst schaden will, außer sie ist schwer psychisch erkrankt. Wir könnten sagen: Was die Mutter selbst nicht erfahren und gelernt hat, das kann sie auch nicht weitergeben, vor allem wenn sie sich ihre Defizite nicht bewusst gemacht hat. Denn Mutterliebe ist eben kein genetisches Programm, sondern die Fähigkeit zu lieben hängt von den eigenen Erfahrungen ab.
Gleichzeitig sind wir von Mutterbildern umstellt – nehmen wir Romane, Filme, Lieder, überall geht es um Erfüllung, Liebe und absolutes Glück. Aber die Realität und diese Sehnsucht nach Harmonie sind einfach nicht in Einklang zu bringen.
Gibt es hier vielleicht auch eine Art Komplizenschaft zwischen konservativer Mutterideologie und der Zweiten Frauenbewegung, die Mutterschaft vielleicht auf eine andere Art idealisiert hat?
Ich glaube nicht, dass wir mit der Frauenbewegung Mutterschaft idealisiert haben. In unseren zahllosen Debatten ging es vor allem um unsere Mütter, von denen wir uns abgrenzen wollten. Das haben wir in einer Radikalität getan, die oft schwierig war. Denn natürlich ist in der ganzen antiautoritären Bewegung viel Wildwuchs passiert, der den Kindern damals auch nicht gutgetan hat. Meine Generation hat von den Eltern insgesamt sehr wenig Halt und Sicherheit erfahren und bei ihrer Suche nach Neuem war sie selbst oft auch extrem haltlos und auf sich bezogen.
Ein sehr eindrückliches Beispiel, auf das Sie in Ihrem neuen Buch eingehen, ist Alice Miller, die sich in „Das Drama des begabten Kindes“ eingehend mit dem Phänomen des mütterlichen Narzissmus auseinandersetzt. Jetzt hat ihr eigener Sohn in einem eigenen Buch über das „wahre Drama“ schwere Vorwürfe gegen sie erhoben und vor Millers Tod auch den Kontakt zu ihr abgebrochen. Wie kann es zu solch einer Blindheit gegenüber dem eigenen Fehlverhalten kommen?
Alice Millers Texte waren für uns unglaublich wichtig, aber wir wussten weder, dass sie eine Jüdin war, noch, dass sie das Warschauer Ghetto überlebt hatte, sie hat das nie thematisiert. Was ihr passiert ist, kennen wir gut aus der Traumatheorie: Bei sehr dramatischen, unbewältigbaren Ereignissen macht die Seele etwas sehr Hilfreiches: sie dissoziiert, sie spaltet ab. Dadurch können Menschen gut weiterleben, gut im Alltag funktionieren, was ja die gesamte Kriegsgeneration in der Nachkriegszeit getan hat. Aber durch dieses Abspalten geht auch ein Teil meiner Fühlfähigkeit, meiner Empathie verloren, mir selbst, aber eben auch anderen und das heißt meinen Kindern gegenüber. Im Kopf kann ich empathisch sein, das ist Alice Miller hervorragend gelungen, aber im wirklichen Fühlen bin ich es nicht mehr. Fühlen macht dann Angst.
Sie zeigen in Ihren Büchern, dass Traumata über mehrere Generationen weitergegeben werden können. Wie geschieht das genau?
Lassen Sie uns beim Beispiel Alice Miller bleiben, die bestimmte Erinnerungen, einen bestimmten Teil ihrer selbst verdrängen musste. Das heißt, sie ist buchstäblich nicht mehr ganz da. Ganz viele Kinder beschreiben das Gefühl, ihre Mütter seien zwar physisch präsent, aber eigentlich abwesend gewesen. Diese Kinder fühlen sich nicht wahrgenommen und deshalb einsam und nicht geliebt. Eine junge Frau hat mir unlängst einen wiederkehrenden Traum erzählt, der das sehr gut veranschaulicht. Sie fährt mit ihrer Mutter im Auto, sitzt hinten auf dem Rücksitz und fängt plötzlich an zu brennen, doch ihre Mutter bekommt davon vorne auf dem Beifahrersitz nicht das Geringste mit. Es gibt in dieser jungen Generation viele Angststörungen, Depressionen und Zwangserkrankungen, doch sehr oft können die Betroffenen gar nicht mehr nachvollziehen, wo das eigentlich herkommt.
Sind es nur die Kriegstraumata, die so verheerende Auswirkungen hatten? Oder war es vielleicht auch das sehr grausame Mutterideal, das lange nachwirkte? Johanna Harrers Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ war nicht nur im Nationalsozialismus, sondern bis in die 1970er-Jahre ein Standardwerk zur Kindererziehung. Harrer empfiehlt darin konsequente Härte und gibt geradezu sadistische Erziehungstipps.
Absolut. Diese autoritäre, kalte, schwarze Pädagogik war zutiefst traumatisierend. Wenn das Kind schreit, schieben wir es eben draußen in die Kälte, das härtet ab und stählt fürs Leben. Mit Grobheit und Härte sind viele Kinder behandelt worden.
Was muss passieren, damit die transgenerationale Weitergabe von Traumata durchbrochen wird?
Wir müssen uns die Dinge bewusstmachen. Ich schreibe meine Bücher, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, dass diese Auseinandersetzung ein entscheidender Schritt ist. Ich rede viel mit jungen Frauen, sie sind sehr neugierig, was zwischen ihren Müttern und Großmüttern schiefgelaufen ist, und sie wollen genau wissen, was eine gute Bindung ausmacht. Das ist eine ganz große Chance! Die gute Nachricht ist: Bindungsstörungen sind heilbar, wir können uns als Erwachsene die Dinge suchen, die wir als Kinder vermisst haben – wir können uns „nachnähren“. Wir finden als Erwachsene z. B. Freunde oder Freundinnen, die ein „Ja“ für uns haben.
Was muss für eine Annäherung geschehen?
Das Entscheidende ist, dass sich Mutter und Tochter auf einer Erwachsenenebene begegnen, sonst kommen sie aus diesem Eltern-Kind-Muster nicht raus. Die Mutter wird anerkennen müssen, dass ihre Wahrnehmung der Vergangenheit ganz offensichtlich von der ihrer Tochter abweicht. Und wenn es ihr gelingt, sich in die Schuhe der Tochter zu stellen, und sie sich traut zu fragen: „Wie hat es sich früher für mein Kind angefühlt?“, dann wird es im nächsten Schritt auch der Tochter viel leichter fallen, die Perspektive der Mutter zu verstehen. Die Familienwahrheit muss anerkannt werden.
Geht es ohne diese Auseinandersetzung der Mutter mit dem, was vorgefallen ist?
Nein. Ich glaube, dass hinter der Mehrheit aller Fälle von Kontaktabbruch ein transgenerationales Problem steht, also die Mutter selbst keine gute Beziehung zu ihren Eltern hatte.
Ihre Aufgabe besteht darin, sich damit auseinanderzusetzen. Erst wenn man sich den eigenen Defiziten, der eigenen Familiengeschichte, den eigenen Schmerzen stellt, kann man auch die der anderen wahrnehmen. Das Anerkennen der Problematiken schafft dann eine Nähe, die man sich vorher vielleicht nicht hat vorstellen können.
Sie plädieren in Ihrem Buch für diese Auseinandersetzung, formulieren aber Ausnahmen. Wann ist ein Kontaktabbruch Ihrer Meinung nach die bessere Lösung?
Es gibt Fälle, in denen Mütter einfach kalt und abweisend sind, bei ihnen ist oft nichts zu holen. Oder narzisstische Mütter, die selbst so beschädigt sind, sie müssten ihr ganzes Leben radikal infrage stellen, was ihnen kaum möglich ist. Dann sollten sich Töchter auf gegenwärtige Beziehungen konzentrieren, die ihnen guttun. Es gibt meiner Meinung nach – auch wenn ich für diese Aussage sicher angegriffen werden kann – Eltern-Kind-Beziehungen, bei denen es für die Kinder sogar notwendig ist, den Kontakt für eine Zeit abzubrechen, um zu sich zu finden. Weil sie von den Eltern sonst immer wieder angegriffen werden und ihrer eigenen Wahrnehmung nicht vertrauen können. Weil diese Eltern immer wieder sagen: „Das war doch gar nicht so, wir lieben dich doch so sehr.“
Ich erlebe oft, dass Kinder für einige Zeit den Kontakt abbrechen und nach der eigenen Auseinandersetzung und Bewusstmachung aus einer neuen Stärke heraus den Eltern plötzlich als Erwachsene begegnen können. Und auf dieser Ebene kann dann etwas Gutes passieren.
Claudia Haarmann ist Autorin von „Kontaktabbruch – Kinder und Eltern, die verstummen“ sowie „Mütter sind auch Menschen – Was Töchter und Mütter voneinander wissen sollten“, beide Bücher sind im Orlanda-Verlag erschienen.
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