„Jeden Tag schließen Kliniken im Süden und Mittleren Westen. Menschen suchen verzweifelt nach einer Möglichkeit für einen Schwangerschaftsabbruch, nachdem bereits vereinbarte Termine abgesagt wurden. Genau in diesem Moment sitzt jemand mit einer nicht lebensfähigen Eileiterschwangerschaft in der Notaufnahme und fragt sich, wie lebensbedrohlich es erst werden muss, damit die notwendige Behandlung endlich durchgeführt wird“, fasst Kimberly Inez McGuire, Geschäftsführerin der Pro-Choice-Organisation URGE, die dramatische Lage zusammen.
Entsprechende Horrormeldungen häufen sich, nachdem der Supreme Court Roe v. Wade Ende Juni gekippt hatte. Wenige Wochen nach diesem folgenschweren Urteil haben bereits elf Bundesstaaten im Süden und Mittleren Westen ein vollständiges Abtreibungsverbot erlassen oder die Möglichkeit eines Abbruchs auf die ersten sechs Schwangerschaftswochen beschränkt. 43 Kliniken haben bereits geschlossen, Abtreibungskliniken in Florida sind seither vollkommen überlastet.
Ungewollt Schwangere müssen nun von manchen Orten aus mehrere Staatsgrenzen überqueren und viele hunderte Kilometer zurücklegen, um straffrei eine Abtreibung vornehmen zu können. Weil die damit verbundenen Kosten für viele mitunter unerschwinglich sind, rückt diese Möglichkeit für sie buchstäblich in unerreichbare Ferne. Feministische Initiativen organisieren Reisen und Kostenübernahmen, doch auch sie sind heillos überfordert.
„Reiche Frauen treiben ab, arme Frauen sterben”, lautet ein in Lateinamerika häufig skandierter Demo-Slogan. Auch wenn die Verbreitung des Abtreibungsmedikaments Misoprostol inzwischen zum Glück viele Todesfälle verhindern kann, führen illegale Abtreibungen überall auf der Welt weiterhin zu schweren gesundheitlichen Komplikationen und eben auch zum Tod.
Abtreibungsverbote treffen Schwangere, die unter Armut leiden, immer am härtesten. In den USA sind das bekanntlich überproportional oft Schwarze Menschen. „Schon jetzt ist die Müttersterblichkeit bei Schwarzen Frauen drei- bis viermal so hoch wie bei weißen Frauen, deshalb wird die eingeschränkte Abtreibungsversorgung das Leben Schwarzer Schwangerer unverhältnismäßig stark gefährden”, schreiben die Kongressabgeordneten Ayanna Pressley und Barbara Lee in einem offenen Brief. „Im Namen der mehr als 21 Millionen Schwarzen Frauen in Amerika“ fordern sie deshalb dazu auf, einen „nationalen Notstand“ auszurufen. Laut einer Studie würde das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs in den Vereinigten Staaten zu einem allgemeinen Anstieg der Müttersterblichkeit um 21 Prozent und bei Schwarzen sogar um ein ganzes Drittel führen. „Angesichts dieser Krise müssen wir dringend handeln, als ob Leben davon abhingen – denn das tun sie”, appelliert der Aufruf.
Das Urteil des Obersten Gerichtshofs wird von einer überwältigenden Mehrheit aller jungen US-Bürger:innen abgelehnt. Ganze 74 Prozent der 18- bis 34-Jährigen halten das Recht auf Abtreibung für existenziell wichtig. Ermutigend verlief auch ein Referendum im konservativen Kansas. Eine deutliche Mehrheit sprach sich dafür aus, das Abtreibungsrecht dort unangetastet zu lassen.
Der Backlash hat also durchaus das Potenzial, zur Politisierung vor allem der jungen Generation beizutragen. Das haben auch die Demokraten erkannt, die im Wahlkampf zentral auf dieses Thema setzen. Diese Politisierung ist bitter nötig, zumal die Furcht vor weiteren Grundsatzentscheidungen groß ist. Angesicht der neuen Kräfteverhältnisse im Supreme Court werden die reaktionären Angriffe gegen LGBTIQ-Rechte selbstbewusster, einschließlich der „same sex marriage“. „You better hope that they don’t come for you, Clarence”, wütete Whoopi Goldberg deshalb in Richtung des afroamerikanischen Richters Clarence Thomas. Sie spielt damit auf das Urteil Loving vs. Virginia an, mit dem erst 1967 die „interracial marriage” legalisiert wurde.
Doch parallel zum Erstarken der religiösen Rechten wächst tatsächlich auch der Widerstand. Feministische Medien in den USA verzeichnen seit dem Urteil Rekordzugriffe. „Im Moment sind die Menschen so wütend”, erklärt die feministische Journalistin Jessica Valenti gegenüber der „New York Times“. „Sie wollen einen Ort, der mit ihnen wütet“.
Wo und wie diese Wut gut investiert wäre, zeigt ein Blick nach Lateinamerika. Bis vor wenigen Jahren fand dort von den 6,5 Millionen jährlich durchgeführten Abtreibungen nur ein Viertel unter medizinisch sicheren Bedingungen statt. Das hat sich in kürzester Zeit geändert: „Marea Verde“, die „Grüne Flut“ hat in einem unglaublichen Siegeszug mittlerweile die Legalisierung (bzw. Entkriminalisierung) von Abtreibung in Argentinien, Kolumbien und Mexiko erkämpft, Chile dürfte bald folgen. •