Wie teuer kommen uns Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe? Der volkswirtschaftliche Schaden ist immens, hat JULIA PÜHRINGER herausgefunden.
Corona-Krise: So teuer war die Pandemie bisher wirklich«, „Depressionen verursachten 2004 Kosten in Höhe von 118 Milliarden Euro“ – aufgeregte Headlines über nicht funktionierende Menschen. Lässt sich auch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in Zahlen ausdrücken? In der Erhebung „Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und andere Formen von interpersoneller Gewalt“ aus dem Jahr 2021 der Statistik Austria liegt der Prozentsatz von Frauen in Österreich (zwischen 18 und 74 Jahren), die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt haben, bei rund 27 Prozent.
Was sind die Folgen? Frauen, die Übergriffe melden, wechseln oft selbst den Arbeitsplatz und nehmen dafür ein niedrigeres Gehalt in Kauf. In der Mitteilung der EU-Kommission zur „Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020–2025“ wird vermerkt: Auch wenn es mehr Hochschulabsolventinnen als Hochschulabsolventen gibt, bleiben Frauen in höher bezahlten Berufen unterrepräsentiert und im Niedriglohnsektor überrepräsentiert – „was unter anderem auf diskriminierende gesellschaftliche Normen und Stereotypen in Bezug auf die Fähigkeiten von Frauen und Männern sowie die Unterbewertung der Arbeit von Frauen zurückzuführen ist“. Österreich gehört mit 18,8 Prozent (Eurostat-Berechnung 2021) immer noch zu den EU-Ländern mit dem größten Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern. „Nur ein Drittel des Gender Pay Gaps“, so ist auf der Website des Bundeskanzleramtes zu lesen, „kann aufgrund von Merkmalen wie Branche, Beruf, Alter, Dauer der Unternehmenszugehörigkeit und Arbeitszeitausmaß erklärt werden“.
Ganz so rätselhaft scheint die Sache nicht zu sein: Eine im „Quarterly Journal of Economics“ veröffentlichte Studie führt ungefähr ein Zehntel des Gender-Pay-Gaps auf sexuelle Belästigung zurück.
DO IT YOURSELF. Kein Wunder, dass der Ansatz, Frauen zu beruflichen Kampfmaschinen auszubilden, damit sie auch im Patriarchat „alles schaffen“ können, nicht ausreicht. „Es heißt immer, Frauen sollen besser verhandeln, dann haben sie aber Verschwiegenheitsklauseln in den Verträgen“, so Katharina Mader, Chefökonomin des Momentum-Instituts. Und die Frauen sind dann auch noch „selber schuld, dass es nicht besser wird“.
„The economic costs of sexual harassment in the workplace“ hat der Wirtschaftsprüfer Deloitte 2019 für Australien berechnet – mit den Kosten für Erkrankungen, die dadurch für das Management fehlende Zeit sowie fehlende Produktivität, Abwesenheiten (28 Prozent) und steigender Fluktuation von Mitarbeiter*innen (32 Prozent der Kosten!). Denn auch Mitarbeitende, die nicht selbst betroffen sind, verlassen Firmen, in denen sie Übergriffe beobachtet haben. Nicht nur verlieren betroffene Individuen Gehalt (sieben Prozent), sondern Arbeitgeber*innen Produktivität (siebzig Prozent) und der Staat dadurch Steuern (23 Prozent). Allein für 2018 hat Deloitte die Kosten für verminderte Produktivität wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz mit 2,62 Milliarden Dollar beziffert. Machtmissbrauch und sexuelle Belästigung reduzieren also das Bruttoinlandsprodukt (BIP), eine Maßzahl für die wirtschaftliche Leistung eines Landes.
In „The Cost of Sexism“ belegt die Oxford-Ökonomin Linda Scott klare Zusammenhänge zwischen Geschlechtergerechtigkeit und steigenden Einkommen und Lebensstandards. „Es ist nicht so, dass wohlhabende Nationen sich leisten können, ihre Frauen zu befreien, sondern dass die Befreiung der Frauen sie wohlhabend gemacht hat.“
Alyssa Schneebaum, Ökonomin und Assistenzprofessorin an der Wirtschaftsuniversität Wien, verweist auf die Forschung von Alice Wu, die 2017 mit ihrer Arbeit über das Online-Forum „Econ Job Market Rumors“ deutlich machte, wie stark Sexismen in der Wirtschaftswelt eingeschrieben sind. „Wenn man über eine Frau schreibt, schreibt man „sexy“ und „breasts“. Und wenn man über einen Ökonomen schreibt, verwendet man „macro economist“ und „journal“, erzählt Schneebaum. Kein gutes Umfeld für Gender-Themen. „Wie viel Wissen verlieren wir dadurch als Gesellschaft, weil wir es nicht relevant finden?“, fragt sich Schneebaum. Vor einigen Jahren hat sie berechnet, was es ausmachen würde, würden wir die unbezahlte Arbeit von Frauen bezahlen: stolze dreißig Prozent des BIP.
VON DEN TÖPFEN FERNHALTEN. Sind Sexismus, Belästigung und Machtmissbrauch nicht auch einfach ein effizientes Werkzeug, um Frauen vom Arbeitsplatz zu drängen? Sara Hassan, Autor:in, Trainer:in und Moderator:in mit Schwerpunkt Machtmissbrauch und Co-Autorin des Guides „Grauzonen gibt es nicht“ über die Muster sexueller Belästigung, sieht es so: „Wir reden die ganze Zeit darüber, als wäre alles ein Missverständnis und als wäre das alles eine schlüpfrige Angelegenheit. Aber letztlich geht es um die Verteilung von Ressourcen. Darum, dass man versucht, gewisse Menschen, Frauen, Minderheiten, alle, die es nicht „verdienen“, fernzuhalten von den Töpfen, auf die gewisse Leute aka weiße cis Männer, ein gottgegebenes historisches Anrecht formuliert haben. Und jetzt drängen andere Menschen auf den Arbeitsmarkt. Das sind Frauen, das sind Minderheiten, das queere Personen, das sind Schwarze Personen, die historisch dort nicht waren, und machen ihnen das streitig.“ Belästigung wird auch als Strafmechanismus eingesetzt. Betroffene, die solche Fälle melden, werden schnell zu Störenfrieden erklärt.
Auch Katharina Mader bestätigt: „Betroffene reden immer erst dann, wenn das Arbeitsverhältnis zu Ende ist“ – sprich, wenn es zu spät ist für Veränderungen beim Arbeitgeber. „Eigentlich bräuchte es viel mehr Druck in den aufrechten Arbeitsverhältnissen“, so Mader. Gleichzeitig: „Das Arbeitsrecht, das Gleichbehandlungsgesetz, das ist oftmals viel, viel progressiver als wir sind“, so Hassan. „Da steht beispielsweise drin, Belästigung ist verschuldensunabhängig. Das bedeutet, die Motivation von Belästigungen ist uns komplett egal. Betroffene müssen nicht sichtbar machen, dass dieses Verhalten unerwünscht ist, das würde ihnen eine zusätzliche Last aufbürden.“ Aber: Das allein reicht noch nicht.
„Ohne radikale Umverteilung von Ressourcen wird es nicht gehen, dass Machtmissbrauch aufhört“, macht Hassan deutlich.
SCHADENERSATZ FORDERN. Bianca Schrittwieser, Leiterin der Abteilung Arbeitsrecht in der Arbeiterkammer Wien, berichtet, dass sich seit der #MeToo-Bewegung „viel mehr Frauen an die Rechtsberatung wenden“. Auch in ihrer Erfahrung sind Übergriffe kein Einzelfall, sondern ein Verlauf: „Bei jenen, die wir vor Gericht vertreten haben, ist de facto die Belästigung oft von Beginn des Arbeitsverhältnisses an da. Das kann schon beim Vorstellungsgespräch begonnen haben.“ Auch sie sieht dieselbe Auswirkung: Ganz viele Betroffene haben das Arbeitsverhältnis beendet. Immerhin: Bei den Fällen, die vor Gericht endeten, „wurde in achtzig Prozent der Fälle die Leistung eines Schadenersatzes erreicht“, so Schrittwieser. Das gibt Hoffnung.
Die Betroffenen waren zwischen 16 und sechzig Jahre alt. Die erschreckende Erkenntnis: Junge Menschen sind ganz häufig von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen, etwa Lehrlinge oder Praktikantinnen. „Sie steigen grad ins Berufsleben ein und die erste Erfahrung, die sie machen, sind Belästigungen“, so Schrittwieser. Allen Betroffenen hätte nach eigener Aussage geholfen, „dass es im Unternehmen ein Schutzkonzept gibt, dass im Vorhinein klar ist, dass das Unternehmen gegen sexuelle Belästigung auftritt, dass das nicht toleriert wird und es auch Ansprechpersonen gibt“.
Wie ist es um die Fürsorgepflicht bestellt? „Die tritt dann ein, wenn der Dienstgeber von der sexuellen Belästigung erfährt. Dann muss er reagieren. Und wenn er nicht reagiert, dann haftet er so, als wenn er selbst belästigen würde“, so Schrittwieser. Heuer will man sich die ökonomische Perspektive genauer anschauen. „Was richtet man da eigentlich für einen Schaden an?“ Schrittwieser betont: „Wir wissen zu wenig über die, die belästigen.“ Die Erkenntnis: Sexismus ist eine chronische gesellschaftliche Krankheit mit hohen menschlichen und wirtschaftlichen Folgekosten, die viel genauer erforscht und bekämpft werden muss.
JULIA PÜHRINGER ist Journalistin und Filmkritikerin.