Nach der Finanzkrise war die neoliberale Umverteilung von unten nach oben stark in der Kritik. Warum der „autoritäre Kapitalismus“ trotzdem weiterbesteht, erklärt SILKE VAN DYK im Interview mit LEA SUSEMICHEL.
an.schläge: Wodurch zeichnet sich der „Klassenkampf von oben“ aus?
Silke van Dyk: Damit ist eine Politik gemeint, die in radikaler Weise von unten nach oben umverteilt – etwa durch Privatisierungen und die Kürzung von Sozialleistungen. Doch der Klassenkampf wird auf eine Weise geführt, gegen die sich viele nicht mehr zur Wehr setzen, weil diese Politik im Modus von Technokratie, ExpertInnentum und Pragmatismus vollzogen wird. Sie wird aus dem politischen Streit genommen und zur Notwendigkeit erklärt, was bei vielen Ohnmacht und Fatalismus erzeugt. Diese Doktrin der vermeintlichen Alternativlosigkeit ist extrem erfolgreich und perfide, denn der Klassenkampf wird so gar nicht als Kampf geführt, sondern rein technokratisch durchgesetzt.
Allerdings ist die Akzeptanz dieser Alternativlosigkeit durch die Finanz- und Wirtschaftskrise erschüttert worden. Denn dass plötzlich Hunderte Milliarden zur Verfügung standen, um Banken zu retten, hat doch die berechtigte Frage aufgeworfen, warum denn dann nie Geld für soziale Leistungen oder Infrastruktur da ist.
Allerdings war diese Erschütterung nicht sehr nachhaltig. Wieso ist es Ihrer Meinung nach der Finanzkrise nicht gelungen, linke Politik zu stärken?
Es ist leider nicht gelungen, tragfähige Strukturen aufzubauen. Occupy Wall Street beispielsweise fehlte es an Visionen, wie man nicht nur ein Camp, sondern auch eine Gesellschaft basisdemokratisch organisieren kann.
Aber auch die diskursive Delegitimierung neoliberaler Politik scheint nicht sehr nachdrücklich gewesen zu sein.
Colin Crouch hat das „The strange Non-Death of Neoliberalism“ genannt. Denn es hat auf der diskursiven Ebene durchaus eine sehr weitreichende Diskreditierung gegeben. Auch das Spektrum derjenigen, die eine deregulierte, neoliberale Ökonomie ablehnen, ist viel größer geworden. Selbst Institutionen wie die Weltbank, der IWF, die OECD, also die einstigen Speerspitzen neoliberaler Deregulierung und Umverteilung, problematisieren heute soziale Ungleichheit, wenn auch nicht aus ethischen, sondern aus wachstumspolitischen Gründen. Es gibt also ein großes „Window of Opportunity“ für Veränderungen, aber trotzdem wird diese Politik fortgeführt. Das hat auch damit zu tun, dass neoliberale Politik zunehmend autoritär durchgesetzt wird, was sich auf EU-Ebene insbesondere gegenüber Griechenland gezeigt hat.
Sie sprechen davon, dass die Demokratie, die es zu verteidigen gilt, im Zangengriff von „autoritärem Kapitalismus“ und autoritärem Populismus steckt.
Genau. Und beide Positionen treffen sich in ihrem Antipluralismus. Der autoritäre Populismus behauptet, die einzig richtige Position leite sich aus einem ominösen Willen des Volkes ab. Der autoritäre Kapitalismus leitet sie hingegen aus Markterfordernissen ab. In beiden Fällen gibt es also eine dem Politischen entzogene Instanz, die als alternativlos gilt.
Was aber keinesfalls heißen soll, dass ich die beiden Positionen gleichsetzen will, es wird ja oft behauptet, der Rechtspopulismus sei bloß der unappetitliche Arm des Neoliberalismus, das halte ich definitiv für falsch. Genauso falsch übrigens wie die gegenteilige These, dass die neoliberale Phase rechtspopulistischer Politik vorbei sei.
Aber mitunter ist Ersteres durchaus der Fall, oder? Auch wenn RechtspopulistInnen gerne behaupten, Politik für „den kleinen Mann“ zu machen, trägt die FPÖ hierzulande den Sozialabbau der ÖVP willfährig mit.
Natürlich gibt es autoritär populistische Parteien, die wirtschaftsliberale Positionen vertreten, aber eben nicht alle. Marine Le Pen oder der völkische Flügel der AfD stehen z. B. eher für eine national-soziale Politik. Es gibt bei vielen populistischen Parteien anti-neoliberale (und selbstverständlich erst recht anti-liberale) Positionen, die den Strategien bestimmter Kapitalfraktionen klar entgegengesetzt sind.
Allerdings geben sie ihrer Klientel ein anti-neoliberales Versprechen, das aber kein emanzipatorisches Versprechen ist: Sie inszenieren sich als Anwälte der „kleinen Leute“ (bevorzugt der weißen, einheimischen Männer), indem sie ihnen so etwas wie einen ständischen Schutz versprechen vor den Angriffen neoliberaler Entsicherung. Das Versprechen ist: Wir halten euch die Konkurrenz vom Leib, ihr müsst nicht mit Flüchtlingen konkurrieren und auch nicht mit den Frauen. Aber grundsätzlich soll an der Wirtschaftsordnung nichts verändert werden.
Ihre These ist, dass die vermeintliche Alternativlosigkeit der Marktlogik ebenso demokratiezersetzend ist wie der Rechtspopulismus. Und dass wir gegenwärtig Gefahr laufen, wieder das vermeintlich kleinere Übel zu wählen. Wie ist das zu verstehen?
Die berechtigte Aufregung über das Erstarken des Rechtspopulismus zeigt, dass er als stärkere Bedrohung für die liberale Technokratie angesehen wird als linke Politik. Zugleich eröffnet der Rechtspopulismus bzw. seine liberale Kritik jedoch auch einen Weg aus der neoliberalen Hegemoniekrise heraus, denn plötzlich ist (neo)liberale Politik im Vergleich zu den Rechten geradezu eine Lichtgestalt. Deswegen ist es für emanzipatorische Politik so wichtig, sich nicht in eine Koalition mit Neoliberalen drängen zu lassen, sondern einen dritten Pol zu bilden.
Welche Verantwortung trägt die Sozialdemokratie für diese Entwicklung und für den Aufstieg des Rechtspopulismus?
Die Entwicklung der Sozialdemokratie in Europa und Nordamerika hat definitiv zum Erstarken des Rechtspopulismus beigetragen. Es ist ja oft analysiert worden, wie die neoliberale Wende unter Clinton-Blair-Schröder eine Repräsentationslücke entstehen ließ und den autoritären Kapitalismus möglich gemacht hat, weil eben der Pol weggefallen ist, der den Klassenkampf von oben kritisiert hat. Mit ihrer Wende hat auch die Sozialdemokratie diese Alternativlosigkeit anerkannt, es sei nur an Gerhard Schröder erinnert: „Es gibt keine rechte oder linke Wirtschaftspolitik mehr, es gibt nur richtige Wirtschaftspolitik.“
Andererseits ist es auch falsch, daraus abzuleiten, die Leute hätten gar keine andere Wahl gehabt, ihren Sozialprotest auszudrücken, als rechts zu wählen, schließlich gibt es in vielen Ländern auch linke Alternativen zur Sozialdemokratie; abgesehen davon sollten wir nicht vorschnell allen AnhängerInnen rechter Parteien Sozialprotest attestieren.
Das wäre die sogenannte „Notwehrthese“, also das Argument, die ökonomisch Abgehängten hätten sich dem Rechtspopulismus zugewendet, weil ihnen kein anderer Ausweg blieb. Warum ist sie falsch?
Man darf nicht ausblenden, dass der autoritäre Kapitalismus dem autoritären Populismus den Boden bereitet hat. Aber man sollte deshalb nicht davon ausgehen, dass es bloß ein „uneigentlicher“ Ausdruck sei, wenn Menschen sexistisch und rassistisch agieren und entsprechende Parteien wählen, weil sie „eigentlich“ den Neoliberalismus kritisieren wollen. Das katapultiert die Debatte um emanzipatorische Politik um Jahrzehnte zurück, wenn Sexismus, Rassismus und postkoloniale Kontinuitäten nicht als eigenständige Probleme adressiert werden.
Leider ist derzeit auch bei klassenpolitisch argumentierenden Linken zu beobachten, dass es darum geht, „die Sorgen und Ängste“ der Einheimischen, der sogenannten „einfachen Leute“, ernst zu nehmen, nie aber die der Geflüchteten, die sich vor Abschiebung fürchten oder keinen Zugang zu Sozialleistungen haben.
Es ist absolut begrüßenswert, dass wir eine Revitalisierung der Klassenfrage erleben, aber es ist fatal, dass nicht wenige, die derzeit die Klassenperspektive stark machen, den mit der Geschichte von Klassenkämpfen aufs Engste verbundenen Internationalismus außer Acht lassen. Bereits in der Deklaration der sozialistischen Internationalen 1907 wurde dafür plädiert, gemeinsam mit Eingewanderten für einen Mindestlohn zu kämpfen, doch heute werden auch von Teilen der Linken die Geflüchteten und Eingewanderten als Problem identifiziert. Gerade in einer Situation, in der es so ungeheuer wichtig wäre, dass sich emanzipatorische Kräfte gegen autoritären Populismus und autoritären Kapitalismus verbünden, passiert leider genau das Gegenteil – wir erleben neue Spaltungen und ein Erstarken „linksnationaler“ Positionen.
Silke van Dyk ist eine deutsche Soziologin und Professorin für Politische Soziologie in Jena.