Schönheitsstandards sind nicht naturgegeben. VERENA KETTNER hat Moshtari Hilals bemerkenswertes Buch „Hässlichkeit“ gelesen und viel über die eurozentrische Kulturgeschichte von Hässlichkeit erfahren.
»Pferdefresse, was hast du dir gedacht, so freundlich zu grinsen, aus meinem Gesicht?“ So beginnt die Autorin Moshtari Hilal ihr Buch „Hässlichkeit“ und führt ein paar Zeilen weiter aus: „Ich sah mich auf vierzehn passfotogroßen Rechtecken und sie blickten zurück. Es war, wie A. mir noch im Schulflur erklärt hatte: schiefe Zähne, langes Gesicht, große Nase. Vierzehnmal lernte ich mit vierzehn, ich bin hässlich.“ Das Kapitel schließt mit den Worten: „Ich suche das Foto für dieses Buch. Ich suche vergeblich eine hässliche Pferdefresse. Finde nur das Bild eines Kindes, das Zähne zeigend vierzehn Jahre lang zum letzten Mal gelächelt haben wird.“
In ihrem großartigen Werk, das weder vollständig Roman noch Sachbuch, Gedichtzyklus oder Bildband, sondern alles auf einmal ist, unternimmt Moshtari Hilal eine Annäherung an die Angst- und Hassgefühle, die mit dem Konzept von Hässlichkeit verknüpft sind. Denn Hässlichkeit ist nicht oberflächlich, genauso wenig wie Schönheit: „Hässlichkeit wäre oberflächlich, wenn es in Wahrheit nicht um Hass ginge, um den Wunsch, nicht gehasst zu werden, sich selbst nicht zu hassen.“ Hilal arbeitet heraus, wie wir Menschen bereits sehr früh lernen, uns selbst und insbesondere unsere Körper mit Hass zu betrachten. Einem Hass, der eigentlich aus der Angst entsteht, von der Norm abzuweichen und aufzufallen. In Wahrheit hassen wir „nicht unsere fetten Oberschenkel, unsere dreckigen Finger, unseren behaarten Bauch oder unser schiefes Kreuz, sondern wir fürchten die kategorische Nähe zu denen, die unsere Gesellschaft hasst“, analysiert Hilal.
RASSISTISCHE WURZELN. Die Wurzeln dessen, was in der Ästhetik der sogenannten westlichen Moderne als hässlich wahrgenommen wird, liegen in rassistischen, kolonialistischen, antisemitischen, ableistischen und sexistischen Bildern. Der Psychiater und Schriftsteller Frantz Fanon schrieb 1952 in seinem bahnbrechenden Werk „Schwarze Haut, weiße Masken“, in dem es um die Selbstentfremdung von Schwarzen geht, über den Zusammenhang von europäischer Kolonisierung und globalem Kapitalismus mit Schönheitsstandards. Die (Haut-)Farbe Weiß wurde mit Schönheit assoziiert, Schwarz hingegen mit Hässlichkeit. Es bleibt allerdings nicht nur bei einer ästhetischen Verknüpfung, so Fanon: „Dieses Weiß, das sich für schön hält, für besser, für vernünftiger, für vollkommener, für reiner“. Reinheit, Vernunft, Zivilisation bildeten für die europäischen Kolonisator*innen die Kernelemente ihrer Überlegenheitsideologie, mit der sie die gewaltsame Ausbeutung und Unterdrückung legitimierten. Viele dieser rassistischen Bilder wirken bis heute in den westlichen Vorstellungen von Schönheit und Hässlichkeit. So wird der Kriminelle, der Außenseiter gerne weiterhin mithilfe von dunkler Haut, einem stark behaarten, buckeligen oder anders abweichenden Körper, oft mit einer großen Nase, verkörpert. Das geschieht in deutschen Filmklassikern wie „Die weiße Massai“ ebenso wie in Kinderfilmen wie „Dumbo“.
HAARIGER SEXISMUS. Hilal geht in „Hässlichkeit“ auf diese Stereotype ein, schreibt über die Geschichte von Freakshows und „Ugly Laws“, mit denen hässliche Menschen aus den Städten verbannt werden sollten, und behandelt nicht nur Schönheitskriterien wie Hautfarbe und Gewicht, sondern auch die Form des Gesichts, die Größe der Nase oder Körperbehaarung. Sie fragt sich z. B., woher Menschen wissen sollen, wo sie beim Rasieren aufhören sollen? Welche Art von Haaren ist „dreckig“ und eklig, welche nicht? Warum müssen Haare an den Beinen entfernt werden, an den Armen jedoch nicht? Und warum müssen weibliche* Menschen mit starkem Haarwuchs die Haare an den Armen dann eben doch entfernen, um nicht als hässlich abgestempelt zu werden? Im Kapitel „Wolfsmädchen“ geht Hilal dieser geschichtlichen Verschränkung von rassistischen und sexistischen Vorstellungen beim Thema Körperbehaarung nach: „Behaarungen von Körper und Gesicht galten der Forschung nach Darwin als sekundäre Geschlechtsmerkmale. Sie wurden als Indizien der sogenannten anthropologischen Entwicklung der Rasse angesehen: Je höher die evolutionäre Entwicklung, desto stärker die Gegensätze zwischen Mann und Frau.“ Starker Haarwuchs bei Frauen gilt also nicht nur als hässlich, es schwingt implizit auch die rassistische Verurteilung mit, sie sei ein Zeichen von „Minderwertigkeit“. Darüber hinaus wurde starker Haarwuchs von Kriminologen und Dermatologen mit Geisteskrankheit in Verbindung gebracht, wie Hilal herausarbeitet. Auch diese Trope findet sich heute noch in Filmen, insbesondere bei der Inszenierung von Weiblichkeit.
SCHAMBEHAFTETE EINSAMKEIT. Hässlichkeit ist nicht nur mit Gefühlen von (Selbst-) Hass und Angst aufgeladen, sondern auch mit Scham. Denn Hässlichkeit macht einsam, so das Narrativ – wer möchte schon eine hässliche Frau heiraten? In ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte großer Nasen, insbesondere auch mit der sogenannten „jüdischen Nase“, bringt Hilal diese Scham mit antisemitischen, rassistischen und sexistischen Ideologien in Verbindung. So war plastische Nasenchirurgie (Rhinoplastik) nicht nur in ihrer Familie vollkommen normalisiert, für Hilal aber trotzdem mit einem starken Schamgefühl sowie der Angst verknüpft, dass trotz dieser Selbstverneinung der eigenen Geschichte und Herkunft einen die weiße Mehrheitsgesellschaft nicht aufnehmen würde. Hässlichkeit wird als faschistische Ideologie entlarvt, da das strukturell Andere (= die große Nase) ihr nie entkommen kann. Denn im Grunde geht es dabei nicht um die Ablehnung der stigmatisierten Nase an sich, sondern um die Verachtung des Menschen, der diese Nase trägt. Plastische Chirurgie in Form von ethnischer Rhinoplastik, also der Nasenkorrektur aller „nicht-kaukasischen Nasen“, ist ein riesiger Markt, denn sie ist immer auch ein Assimilationsversprechen. Menschen, die Rhinoplastik in Anspruch nehmen, wünschen sich also die Befreiung von einer real erfahrenen Stigmatisierung aufgrund der eigenen Nase, wissen jedoch zugleich, dass die Ablehnung sie viel tiefer trifft.
EINE ANDERE GEWISSHEIT. Dabei ist das eurozentrische Projekt der Schönheitslehre, der sogenannten Ästhetik, historisch und global betrachtet nicht die einzig existierende Definition von Schönheit. Hilal erinnert daran, dass die dekolonialen Theoretiker Walter Mignolo und Rolando Vázquez das Konzept „AestheTics“ (Ästhetik) von der sinnlichen Erfahrung der Schönheit selbst in ihrem Wortgebrauch „aestheSis“ unterscheiden. Zu dieser sinnlichen Erfahrung des Schönen sind alle jederzeit fähig, ohne Doktrinen und Ideologien, sie geht der Ästhetik voraus, da die Vorstellung von Schönheit überhaupt erst auf diesem Fühlen aufbauen kann. Die sogenannte epistemische Gewalt, also das Auslöschen von Wissen und der Geschichtsschreibung insbesondere des globalen Südens, lässt die westliche Ästhetik als vermeintlich universellen Maßstab für Schönheit und Hässlichkeit übrig. Hilal fasst diese Form der Gewalt treffend zusammen: „Die klassische Ästhetik des Westens wirkt weit über Europa und die USA hinaus und ist trotzdem allein nach seinem kulturellen Erbe und seinen elitären Körpern ausgerichtet. Sie (…) braucht stets den Gegensatz: Alles in ihr entfaltet sich immer im Kontrast zum Anderen.“ Etwas als hässlich zu bewerten, erfüllt immer die Funktion von Abgrenzung und Abwertung, ist also keine Frage von Hirnchemie und mitnichten naturgegeben. „Auch ich bin schön“ – sich mit all diesen Argumenten und auf der Grundlage ethischer Überlegungen davon zu überzeugen, sei dennoch schwierig. Mit Rekurs auf die Aktivist*innen Mia Mingus und ALOK plädiert Hilal am Ende ihres so lesenswerten Buches deshalb für „eine Politik des Hässlichen und der Großartigkeit“. Schönheit biete sowieso nur die Illusion von Trost, schließlich sei sie immer vergänglich, „in der Hässlichkeit ruht eine andere Gewissheit“. Die Versöhnung mit unserer Hässlichkeit lehre uns „Verletzlichkeit, Intimität und Vertrauen“ und nicht zuletzt auch, unsere Menschlichkeit und Sterblichkeit anzuerkennen.
VERENA KETTNER findet vieles hässlich. Vor allem das Patriarchat und den Kapitalismus.