Psychische Probleme sind nie nur individuell, sondern immer auch gesellschaftlich bedingt. Feministische Psychotherapie will deshalb nicht fit machen, sondern frei, sagt BETTINA ZEHETNER vom Verein „Frauen* beraten Frauen*“. Interview: LEA SUSEMICHEL
an.schläge: Was haben psychische Gesundheit und Feminismus miteinander zu tun? Was genau zeichnet feministische Psychotherapie aus?
Bettina Zehetner: Eine feministische Haltung hinterfragt den Gegensatz von psychischer Gesundheit versus Krankheit: Denn krank machen kann uns die Anpassung an überfordernde Verhältnisse und widersprüchliche Rollenerwartungen. Krankheit als Verweigerung von Anpassung kann dagegen ein Zeichen psychischer Gesundheit sein. Feministische Beratung und Psychotherapie sind zudem kritisch gegenüber der Pathologisierung „störender Verhaltensweisen“ von Frauen*. Anstatt die Person gleich mit einer Diagnose zu etikettieren, fragen wir nach den Entstehungsbedingungen von Leidenszuständen und der Bedeutung von Symptomen. Denn oft ist ein angeblich krankheitswertiges Verhalten eine sinnvolle Reaktion auf krankmachende Verhältnisse, etwa auf Gewalterfahrungen oder Überforderung.
Feministische Psychotherapie lässt sich überdies an der Haltung des Therapeuten/der Therapeutin zum Thema Geschlecht erkennen: Sie ist nicht normierend und beschränkend, sondern emanzipatorisch und offen. Diese Haltung zeigt sich auch in der Reflexion der eigenen Geschlechterrolle und Identität und der Hinterfragung der eigenen (Ideal-)Bilder von Männlichkeit* und Weiblichkeit*. Die Erkenntnis, dass die eigenen Probleme auch gesellschaftlich mitverursacht sind, wirkt sehr entlastend und setzt dem Gefühl von persönlichem Versagen etwas entgegen. Wenn dieses tyrannische Bild individuellen Scheiterns verabschiedet wird und uns unsere geteilte Verletzlichkeit und die grundlegende Angewiesenheit aufeinander bewusst werden, kann solidarisches Handeln entstehen – wie es auch in Gruppen in der Frauen*beratung immer wieder deutlich wird.
Wie äußert sich diese feministische Haltung konkret in der Therapie?
Wichtig ist die Sensibilität für das Thema Gewalt im sozialen Nahraum und ein Fachwissen über geschlechtsspezifische Sozialisation und ökonomische Verhältnisse. Wichtig ist zudem das kritische Bewusstsein für geschlechtsspezifische Bewertungen von Verhalten und Eigenschaften: Was gilt als „unweiblich“ oder „unmännlich“, was gilt als störend oder auffällig, was gilt bei welchem Geschlecht als aggressiv? Die feministische Haltung zeigt sich aber auch in geschlechtergerechter Sprache oder in Fragen wie: „Wer wäscht bei Ihnen zu Hause die Wäsche?“, damit Selbstverständlichkeiten wieder verlernt werden können.
Die Geschlechtsspezifik psychischer Erkrankungen ist ein weites Feld. Lassen sich vielleicht dennoch einige zentrale Aspekte nennen und herausgreifen? Warum sind Frauen* anders psychisch krank als Männer*?
Weil die Lebensbedingungen in einer patriarchalen Gesellschaft für Frauen* und Männer* unterschiedlich sind. Wichtig ist jedoch auch zu betonen, dass geschlechtsspezifische Krankheitsformen durchaus ein kritisches Potenzial haben – denn sie demonstrieren das Leiden an Geschlechternormen. Den Geschlechterstereotypen entsprechend sind Depressionen, Ängste und Essstörungen für Frauen* „legitimer“ als für Männer, die Aggression richtet sich dabei gegen sich selbst und nicht gegen andere.
Doch wir „haben“ oder „sind“ nicht einfach ein Geschlecht, sondern bringen es beständig in der Interaktion miteinander hervor. Mehr Wissen und Bewusstsein darüber, wie wir „Frau*-Sein“ und „Mann*-Sein“ im Alltag produzieren, erweitert unsere Handlungsfreiheit. Wenn ich mir bewusst darüber bin, dass ich „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ herstelle, wird diese Herstellung auch anders denkbar, nämlich selbstbestimmter als bisher. Nicht-geschlechterrollenkonformes Verhalten kann gesundheitsfördernd wirken – für Frauen* ebenso wie für Männer*. Sobald Frauen* und Mädchen* ihren Zorn auf ungerechte Verhältnisse nicht mehr gegen sich selbst richten, entwickeln sie deutlich weniger Depressionen, selbstverletzendes Verhalten und Essstörungen.
In diesem Sinne halte ich feministische Psychotherapie für sinnvoll auch für Männer*, die ihr Denken und Handeln nicht länger von einschränkenden und krankmachenden Männlichkeitsnormen bestimmen lassen wollen. Die Geschlechterdichotomie in Bewegung zu bringen kann dabei einen Freiheitsgewinn für alle bedeuten: Vielfalt statt Entweder-Oder.
Es gibt eine lange Tradition linker und auch feministischer Psychiatriekritik als Normalisierungsmaschinerie, die gerade ein kleines Revival zu erfahren scheint. Psychotherapie gilt zudem als Komplizin neoliberaler Selbstoptimierung, die nicht das individuelle Wohlergehen, sondern nur die Leistungsfähigkeit des/der Einzelnen im Blick hat. Sie sehen das vermutlich anders?
Psychotherapie ist eine Gratwanderung zwischen Anpassung und Emanzipation. Sie muss sich des Risikos bewusst sein, als Instrument der Krisenentschärfung vereinnahmt zu werden oder als Maschine permanenter Selbstoptimierung, um dem Markt noch besser zu genügen. Die therapeutische Haltung muss deshalb unbedingt kritisch bleiben gegenüber den aktuellen Ansprüchen an Flexibilität, Geschwindigkeit und Effizienz – auch und gerade dann, wenn viele Klient_innen selbst mit dem Anspruch kommen, möglichst schnell „wieder zu funktionieren“. Es ist wichtig, das Gebot der dauernden Selbstbearbeitung und -verbesserung infrage zu stellen. Feministische Psychotherapie will Raum für Reflexion bieten. Sie will verstehen, nicht managen. Feministische Beratungsarbeit ist nicht dazu da, wieder fit fürs Hamsterrad zu machen, sondern gemeinsam die Frage nach einem guten Leben zu stellen und dafür neue Perspektiven und Gestaltungsfreiräume zu entwickeln.
Es gab in der feministischen Szene auch immer schon den Vorwurf, Psychotherapie konkurriere quasi mit Politik: Frauen würden sich in die Beschäftigung mit sich selbst zurückziehen, statt die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern zu wollen. Was erwidern Sie darauf ?
Die Probleme, die Frauen* zu uns in die Beratungsstelle bringen, sind nie nur individuelle Probleme, sondern sie sind immer Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben. Darum ist uns Parteilichkeit für Frauen* als Alternative zur Individualisierung sozialer Problemlagen wichtig. So können feministische Beratung und Therapie als emanzipatorische gesellschaftliche Praxis wirksam werden. Christina Thürmer-Rohr hat schon 1986 gefordert, feministische Psychotherapie soll nicht Fürsorgestation und Reparaturwerkstätte sein, sondern Aufklärungsräume und Gegenentwürfe bieten. Das Ziel der Arbeit von „Frauen* beraten Frauen*“ ist also nicht die bloße Symptombeseitigung und das Funktionieren im bestehenden System, sondern die Erweiterung von Lebens- und Handlungsmöglichkeiten – und das für alle Geschlechter! Feministische Beratung ist kein Training der besseren Anpassung an krankmachende Verhältnisse, sondern eine Praxis der Freiheit.
Zusätzlich gibt es im feministischen Diskurs auch noch gegenwärtig heftigen Einspruch gegen jede Einordnung von Menschen als „psychisch krank“. Angesichts der langen Geschichte der Pathologisierung von Abweichung (etwa von Homosexualität) ist diese Kritik sehr berechtigt. Aber macht es wirklich Sinn, das Konzept von psychischer Krankheit ganz zu verabschieden?
Wir weisen die gesellschaftliche Definitionsmacht der Medizin als Wissenschaft vom „Normalen“ und „Abnormen“ zurück – auch in der Diagnostik. Interessanterweise wurde 1980, nach der Entfernung der Diagnose Homosexualität im Jahr 1973, eine neue Diagnose eingeführt, die eine ähnliche Normalisierungsfunktion erfüllen soll: die „Geschlechtsidentitätsstörung“, heute „Gender Dysphoria“. Sie pathologisiert individuelles Leiden an gesellschaftlichen Normen wieder – anstatt eben dieses „Entweder männlich oder weiblich“ infrage zu stellen.
Anders als mit der Stigmatisierung „störenden“ Verhaltens verhält es sich jedoch mit einer Diagnose, die eine Entlastung bieten kann, weil es für das eigene Leiden einen Namen gibt, und mögliche Ursachen und ein Behandlungskonzept, wie beispielsweise eine spezialisierte Trauma-Therapie.
Die psychotherapeutische Versorgung in Österreich ist lückenhaft, nachdem es ja nur sehr begrenzt Therapie auf Krankenschein gibt. Was sind Ihre Forderungen diesbezüglich?
Wir fordern leistbare Psychotherapie für alle, die sie brauchen und wollen. Das ist nicht nur eine Frage gerechter Verteilung von Ressourcen, sondern auch volkswirtschaftlich sinnvoll, weil gute Psychotherapie langfristig enorme Folgekosten reduziert und Armutsspiralen verhindern hilft. „Frauen* beraten Frauen*“ versucht seit über 15 Jahren einen Vertrag mit der Krankenkasse zu bekommen. Täglich müssen wir Frauen* mit dringendem Psychotherapiebedarf und ohne Geld weitervermitteln – die Unterversorgung ist dramatisch, ganz besonders für von Gewalt betroffene, traumatisierte Frauen*.
Dr.in Bettina Zehetner ist Philosophin und psychosoziale Beraterin bei „Frauen* beraten Frauen*“. Der Verein bietet seit 37 Jahren Beratung zu allen Themen des weiblichen Lebenszusammenhangs, inzwischen auch über ein niederschwelliges, datensicheres Onlineberatungssystem.