Die Krise als Chance? Wieso der Kapitalismus immer schon krisenhaft war und wieso er sich nicht selbst abschafft, erklärt Verena Kettner.
Am Anfang war die Hoffnung. Zu Beginn der Covid-19-Pandemie gab es – nach dem ersten Schreck und Unglauben – in linken Kreisen tatsächlich so etwas wie eine zaghaftes Hoffen auf einen Neuanfang, auf eine umfassende Veränderung des globalen Wirtschaftssystems. Dieser Hoffnungsschimmer baute auf den Solidaritätsbekundungen der Menschen auf, den kleinen Gefälligkeiten und Hilfeleistungen unter Nachbar*innen, einer größeren Aufmerksamkeit für feministisch ewig bearbeitete Themen wie Kinderbetreuung und Pflege, selbst Ideen wie das bedingungslose Grundeinkommen wurden plötzlich breiter diskutiert. Die politische Hilflosigkeit angesichts der Pandemie stellte eine Art Riss im kapitalistisch-neoliberalen Gesellschaftssystem dar, sie öffnete Möglichkeitsräume, die Funken utopischen Träumens zuließen. Covid-19 wurde dabei oft als sogenannte „Krise von außen“ wahrgenommen, die überraschend die bestehende Ordnung bedroht.
Krisen im Kapitalismus sind allerdings sehr selten auf Ursachen zurückzuführen, die außerhalb des kapitalistischen Systems selbst liegen (ein Gegenbeispiel wäre ein einschlagender Meteorit). Kapitalismus als Wirtschafts- sowie als Gesellschaftssystem basiert seit jeher auf Unterdrückung und Ausbeutung. So zeichnet die italienische Philosophin Silvia Federici in ihrem Werk „Caliban und die Hexe“ historisch nach, wie der Kapitalismus sich nur als weltumspannendes System durchsetzen konnte, weil er sich insbesondere zwei Ressourcen aneignete: die Körper von Frauen für unbezahlte Reproduktionsarbeit und die kolonisierten Territorien für materielle Ressourcen und ausgebeutete Arbeitskraft. Nur dank dieser beiden Quellen lässt sich überhaupt Mehrwert produzieren, woran sich bis heute nichts geändert hat.
Krisen sind dem Kapitalismus, der auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen immer mehr produzieren will, also von Anfang an inhärent. Sie spiegeln im Grunde nur die ungleichen Verhältnisse wider, die der kapitalistische Status quo sind. Auch die Covid-19-Pandemie und vor allem ihre Bearbeitung waren so eine Krise: Das jahrzehntelange Ausbeuten der Natur und globalisierte komplexe Wirtschaftsbeziehungen führten zu günstigen Bedingungen für das Virus, um sich weltweit auszubreiten. Dennoch gehen viele linke Theorien davon aus, dass Krisenmomente immer auch Momente eines Bruchs, eventuell sogar einer Revolution sein können, da die Vormachtstellung der Herrschenden dann weniger abgesichert ist. Wenn es vorher bereits genügend widerständige Organisierung gab, um den Ärger der Menschen in Bahnen zu lenken, könnte das Krisenmoment für gesellschaftliche Transformation genutzt werden. Leider ist das meistens nicht der Fall. Der Neoliberalismus ist vielleicht besser als jedes ihm vorangehende Gesellschaftssystem in der Lage, Widersprüche zu vereinnahmen. Unterdrückende Verhältnisse sind im 21. Jahrhundert so vielfältig, dass es schwierig ist, „eine Masse“ zu bilden, die gemeinsam die Krise nutzt, um Revolution zu machen. Das marxistische Bild einer kollektiven Masse, die sich endlich wehrt, wenn die Verhältnisse nur irgendwann schlimm genug werden, ist nicht nur überholt, sondern auch aus einer privilegierten Perspektive gezeichnet. Die alltäglichen Verhältnisse sind bereits schlimm, schon lange für unterschiedliche (Minderheiten-)Gruppen von Menschen in unterschiedlichen Ausprägungen. Es ist eine westliche, weiße, männliche, bürgerliche Ignoranz, die davon nicht bzw. weniger betroffen ist. Wir können nicht darauf warten, dass die Ausbeutungsverhältnisse sich noch mehr zuspitzen, damit es zu einem umfassenden Aufstand kommt. Stattdessen sollten wir die Krisenhaftigkeit unseres Alltags anerkennen und diese bekämpfen – alle von uns aus ihren Positionen heraus und mit ihren Möglichkeiten. Wir sollten weiterhin nach Gemeinsamkeiten suchen, um uns in manchen Kämpfen zusammenzuschließen, in manchen vielleicht auch getrennte Wege zu gehen. Vor allem sollten wir überall diesen Kampf führen, sowohl im Alltag und in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen als auch in organisierten Strukturen und Kollektiven. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama stellte 1989 die These auf, dass ein Ende der Geschichte wahrscheinlicher sei als ein Ende des Kapitalismus. Auch das ist eurozentristisches und universalistisches Denken, denn es gab örtliche und zeitliche Alternativen zum Kapitalismus und es kann diese auch wieder geben. Sie werden nur nicht aufgrund einer Krise vom Himmel fallen – sie müssen erkämpft werden. •