Interview: Politikwissenschaftlerin und Pädagogin MARÍA DO MAR CASTRO VARELA über klassistische Bildungsbarrieren. Von BRIGITTE THEIßL und VINA YUN
an.schläge: In Wien plakatierte die Österrei- chische Volkspartei kürzlich: „Das Gym- nasium gewinnt jeden PISA-Test.“ Der Plan der Sozialdemokrat_innen, eine Gesamtschule einzuf ühren, ist bisher an den Konservativen gescheitert. Steckt hinter dem Nein zur Gesamtschule die Angst, Privilegien zu verlieren?
María do Mar Castro Varela: Sicher, ein Schulsystem, das bereits Kinder in diverse „Kategorien“ unterteilt, verunmöglicht aktiv Inklusion und soziale Mobilität. Wer soziale Mobilität fördern will, muss den Zugang zu Bildungsprivilegien für breite Bevölkerungsgruppen öffnen, denn Bildung ist und bleibt der Schlüssel zu politischer wie sozialer Partizipation. Insofern steckt hinter dem Nein zu sämtlichen Bemühungen, das Bildungssystem zu reformieren, immer auch ein Impuls zur Besitzstandswahrung. Längst vergessen scheint, dass im Zuge der Entnazifizierung nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Schulreform diskutiert wurde. Wie so vieles ist aber auch dieses Unternehmen gescheitert und eine weitergehende Demokratisierung der Gesellschaft verhindert worden.
Allerdings ist eine bloße strukturelle Reformierung auch keine wirkliche Lösung. Die Gesamtschulen in Deutschland, die in den 1970er- und 1980er-Jahren aufgebaut wurden, haben nicht dazu geführt, dass sich die Verteilung von Bildungsprivilegien grundlegend verändert hat. Sie haben im Gegenteil Kritik selbst von linker Seite erfahren. Zudem haben sich dort neue Formen der Bildungsordnung durchgesetzt, etwa durch die Einführung von Leistungsgruppen. Damit bleibt alles beim Alten. Notwendig wären eher grundsätzliche Überlegungen zu Bildungsgerechtigkeit.
Die niederländische feministische Autorin Anja Meulenbelt schrieb schon in den 1980ern: „Die Kultur der Schule ist eine Mittelschichtskultur.“ Ist demnach das, was als „gute Bildung“ oder gar als „Begabung“ gilt, klassenspezifisch definiert?
Schule normalisiert, weswegen nur die eine wirkliche Chance haben, die „normalisierbar“ sind. Meulenbelt hat insofern Recht, als dass die Kategorie „Klasse“ beim Thema Bildung in der Tat eine besonders signifikante Rolle spielt. Die meisten migrantischen Schüler_innen aus der Mittelschicht setzen sich beispielsweise in der Schule durchaus durch. Sie machen zwar, wie viele Studien gezeigt haben, Diskriminierungserfahrungen, sind aber oft in der Lage, sich diesen zu widersetzen.
Aus diesem Grund denke ich „Verletzlichkeiten“ immer in Kombination mit „Widerstandsquellen“. Schwarze Schüler_innen, deren Eltern Akademiker_innen sind, erfahren ebenso Rassismus in der Schule wie proletarische Schwarze Schüler_innen, aber sie haben eben doch andere Waffen zur Verfügung, um sich gegen diese zur Wehr zu setzen.
In den 1970ern wurde in linken und feministischen Kreisen noch über den „heimlichen Lehrplan“ debattiert, der den regulären unterlaufe. Im Sinne Foucaults sind Schulen Orte der Disziplinierung: Wir lernen dort nicht nur Mathematik und Deutsch, sondern auch das Zuhören, das Ruhigsitzen, eine Autorität zu akzeptieren und uns unterzuordnen. Wer dies bereits zu Hause gelernt hat, kommt mit den Regeln eher zurecht. Und wer in der Familie Gelegenheit hat, über die gemachten Erfahrungen der Unterordnung zu sprechen und diese zu reflektieren, findet schneller Strategien, diese zu kontern, ohne aus dem System herauszufallen.
Es ist bekannt, dass Armut die größte Hürde für Bildungsbeteiligung darstellt. Erwiesen ist auch, dass ein niedriger Bildungsstatus von einer Generation zur nächsten weiter vererbt wird. Trotzdem ist die soziale Herkunft kaum Thema in den hiesigen Bildungsdebatten …
Nun, das scheint mir weniger rätselhaft, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Damit Diskriminierungserfahrun- gen in einer Art und Weise artikuliert werden können, dass sie tatsächlich hörbar werden, bedarf es einer mit Autorität ausgestatteten Gruppe, die die Situation anklagt und akzeptierbare Alternativen formuliert.
Nicht zufällig wird in linken Debatten eher der geringe Prozentsatz von Professorinnen migrantischer Herkunft und weniger die pädagogische Qualität der Grundschulen in prekären Stadtteilen beklagt. Bekannt ist etwa, dass linke Eltern in Berlin-Kreuzberg ihre Kinder bevorzugt auf Freie Schulen oder andere Privatschulen senden – und eben nicht dafür kämpfen, dass sich die desaströsen Zustände in den meisten Kreuzberger Schulen ändern. Hier verbleiben dann vor allem jene, die keine Möglichkeit haben bzw. sehen, ihren Kindern eine bessere Bildung zu ermöglichen.
Schüler_innen, die weder in der Familie noch im Alltag die Gelegenheit bekommen, die schlechte Bildung, die die Schule bietet, zu kompensieren, haben nur sehr geringe Chancen auf eine soziale Mobilität. Ihre Situation wird lediglich von Zeit zu Zeit skandalisiert, aber kaum strukturell problematisiert. Die proletarischen Jugendlichen sind nur noch gut für reißerische Medienberichte und Trash-Produktionen im Vormittagsprogramm, wo ihre „Unzivilisiertheit“ vorgeführt und zu Geld gemacht wird.
„Bildung“ und „Leistung“ sind auch Schlüsselbegriffe in der derzeitigen politischen Diskussion über die „Integration“ von Migrant_innen. Wer sich genügend anstrengt, kann sich erfolgreich integrieren und wird mit sozialem Aufstieg belohnt, lautet das Versprechen …
Die Ideologie der Meritokratie, die nach wie vor das Feld der Bildungspolitik dominiert, gibt vor, dass alle, die sich wirklich Mühe geben, es im Bildungssystem und damit auch allgemein im Leben schaffen können. Die Individualisierung von struktureller Benachteiligung ist dabei ein gelungener ideologischer Coup, der die Marginalisierten für ihre Benachteiligung selbst verantwortlich macht. Im anglophonen Raum spricht man in diesem Zusammenhang von „blaming the victim“.
Interessanterweise geht hier der Integrationsdiskurs mit dem Bildungsdiskurs eine unrühmliche Allianz ein.
Dass viele migrantische Schüler_innen an den Bildungseinrichtungen scheitern und mit einer „Non-Bildung“ auf einem Arbeitsmarkt landen, der sie im digitalisierten Zeitalter nicht mehr aufnehmen kann, wird nicht selten mit einem Mangel an Integrationswillen beschrieben. Nicht die Schulen seien das Problem, sondern die Migrant_innen.
Es ist immer noch gerne die Rede von „nicht integrierten Migrant_innen“ und „bildungsfernen Familien“. Doch eigentlich wird die angebliche „Nicht-Integration“ wie auch die „Bildungsferne“ nicht nur hingenommen, sondern tatsächlich hervorgebracht. Die „neuen Monster“ sind in dieser Logik „nicht-integrierte“, „ungebildete“ migrantische Jugendliche, die die ansonsten angeblich kosmopolitischen und kreativen Städte bevölkern und das ansonsten „schöne Leben“ dort gefährden. Ausnahmen werden dabei gerne gefeiert.
Eine aktuelle deutsche Studie hält fest, dass die Uni-Professuren seit den 1990ern zunehmend von Angehörigen privilegierter Schichten besetzt werden und durch eine wachsende soziale Schließung charakterisiert sind. Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach eine sozial privilegierte Herkunft für die wissenschaftliche Karriere?
Im Grunde ist die Universität ein hoch feudales System. Die Durchlässigkeit ist extrem reguliert, und nur eine kleine Gruppe, die nicht der Bildungsaristokratie angehört, ist resilient genug und kann sich durchsetzen. Das gilt auch für die Mitglieder migrantischer Communitys und der Diaspora: Vor allem kommen die durch, die bereits aus akademischen Mittelschichtsfamilien stammen. Ich selbst kenne nur ganz wenige migrantische Professor_innen proletarischer Herkunft. Klasse war schon immer eine größere Hürde beim Erwerb von Bildung als die diasporische Herkunft.
In den öffentlichen Debatten über die Hochschulen fallen ständig Plädoyers für „Exzellenz“ und „Spitzenforschung“, es werden neue „Elite-Unis“ ausgerufen, die sich im Wettbewerb in der „Weltklasse“ messen. Wer profitiert von diesem Eliteanspruch?
Nun, meines Erachtens ist das Feld auch hier ziemlich komplex. Einerseits bin ich prinzipiell gegen jede Form von Elitebildung, andererseits ist es auffallend, dass sich gerade in den Exzellenzinitiativen migrantische und diasporische Akademiker_innen finden, die im „normalen“ Hochschulbetrieb nie eine Chance gehabt hätten. Zugegebenermaßen handelt es sich zumeist um internationale Akademiker_innen, die aufgrund ihrer guten Ausbildungen im Ausland und Fremdsprachenkenntnisse in Zeiten, in denen die Internationalisierung zu einem Aushängeschild der Hochschulen geworden ist, hier gute Chancen auf Positionen haben. Heute profitieren von den Elitehochschulen nur diejenigen, die bereits eine gute Grundausbildung genossen haben.
In Deutschland und Österreich wurde größtenteils das US-amerikanische System adaptiert. Allerdings gibt es in den USA keine Universität, an der nur weiße US-amerikanische Männer lehren. Aber es gibt durchaus Fakultäten in Deutschland, in denen nur weiße deutsche Männer forschen, und Hochschulen, in denen es nicht einfach ist, eine_n Professor_in nicht-deutscher Herkunft zu finden.
Verändert werden muss zum einen der Zugang zu den Universitäten. In Folge würde sich geradezu organisch eine andere Zusammensetzung der Hochschulen bezogen auf alle Statusgruppen ergeben. Oder die Universitäten würden verschwinden – auch keine üble Utopie. Zum anderen: Inhaltlich ist das, was in den Exzellenzclustern geforscht wird, sehr heterogen. Und doch ist auffallend, dass kritische Forschung zunehmend schwer finanzierbar ist. Postkoloniale Studien beispielsweise werden als kritischer Zuckerguss genutzt, ohne diese tatsächlich curricular zu verfestigen, während Gender Studies massiv angegriffen und disqualifiziert werden.
Gibt es heute noch eine Bildung „von unten“, die selbstorganisiertes nicht-hegemoniales Wissen als ermächtigendes Instrument begreift, um Gesellschaft zu verändern?
Ich glaube nicht. Ich denke aber, dass es an der Zeit ist, eine Bewegung für eine „Bildung von unten“ zu initiieren. Wer nach wie vor an eine Revolutionierung des Alltags glaubt, wird erkennen müssen, dass Revolutionär_innen nicht als solche auf die Welt kommen. Und wer Gerechtigkeit fordert, muss um Verhältnisse bemüht sein, die es denen, die weiterhin unterdrückt werden, erlaubt, ihre Unterdrückung zu artikulieren.
María do Mar Castro Varela ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Sie beschäftigte sich insbesondere mit Fragen von Postkolonialer Gerechtigkeit. Zurzeit arbeitet sie an einer Publikation zu „Bildung und Postkolonialer Gerechtigkeit“.
Die Langfassung des Interviews gibt es auf www.migrazine.at.