Kunstuniversitäten geben sich gerne progressiv – doch sie sind oft elitäre Institutionen. Franzis Kabisch über neoliberale Werte und lernen am Gang.
„Nur vier von euch werden später von ihrer Kunst leben und nur einer davon wird berühmt“, sagte ein Professor in meiner Einführungsvorlesung an der Kunsthochschule. Ob die Zahlen stimmten und woher sie kamen, war nebensächlich. Mit seiner Aussage wollte er uns vielmehr provozieren, uns vielleicht gegeneinander aufstacheln oder unsere idealisierten Vorstellungen von einer Zukunft als Künstler*in einem Reality-Check unterziehen. Neben mir saßen rund sechzig Studierende, die – wie ich – ziemlich froh waren, es durch den Bewerbungsprozess der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HFBK) geschafft zu haben. Von aussichtslosen Berufschancen wollte ich in diesem Moment nichts hören, bekam durch die provokanten Worte des Professors aber eine erste Idee davon, was an Kunsthochschulen alles schiefläuft.
Vitamin B. In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es knapp vierzig deutschsprachige Kunsthochschulen. Wer sich bewirbt, muss eine künstlerische Mappe einreichen, die eine besondere Begabung belegen soll, für die es aber keine klaren Kriterien gibt. Teilweise folgen in der zweiten Bewerbungsrunde Vorstellungsgespräche an den Unis oder künstlerische Aufgaben, die unter Zeitdruck vor Ort erfüllt werden müssen. Für die Bewerbung braucht man also Zeit, Geld und Mobilität. Wer zudem die richtigen Kontakte hat, hat bessere Chancen, aufgenommen zu werden, wie eine Studie der Soziologin Dr. Barbara Rothmüller zeigt: Bewerber*innen, die bereits Professor*innen oder Studierende an den Akademien kennen, werden häufiger zu Aufnahmeprüfungen eingeladen als Bewerber*innen ohne Kontakte. Rothmüller untersuchte im Jahr 2009, welche Bevölkerungsgruppen sich an der Akademie der bildenden Künste Wien bewerben und ob sie im Bewerbungsprozess Diskriminierungen erfahren. Am prägnantesten stach für Rothmüller die „Selbstselektion“ heraus, die viele daran hindere, sich überhaupt an Kunsthochschulen zu bewerben. Je höher das soziale und kulturelle Kapital der Bewerber*innen, je höher die Unterstützung durch Eltern und die Zahl der Kontakte im künstlerischen Feld, desto größer ist der Glaube daran, zum Kunststudium zugelassen zu werden. „Kinder von ArbeiterInnen sowie Kinder von Eltern mit niedrigen Bildungsabschlüssen kommen verglichen mit ihren Bevölkerungsanteilen kaum zur Anmeldung“, so Rothmüller.
Kunstgenies und Deutschtum. Wer es trotz dieser Hürden auf eine Kunstuniversität schafft, ist mit weiteren Selektionsprozessen konfrontiert – einer davon das System der künstlerischen Klassen. Wie bei gesellschaftlichen Klassen bleiben die Regeln und Ausschlussmechanismen der künstlerischen Klassen oft unthematisiert. Die Professor*innen, die diese Gruppen leiten, entscheiden, wer aufgenommen wird, wer wieder gehen muss und was in den Klassen als Kunst zählt. Nicht selten inszenieren sich diese Professor*innen – den Regeln des internationalen Kunstmarkts entsprechend – als Kunstgenie oder „enfant terrible“ und verkennen dabei die Machtposition, die sie gegenüber ihren Studierenden haben.
Die ohnehin schon existierende Konkurrenzsituation wird durch Preisverleihungen und Stipendien verstärkt. Die Studierenden müssen sich gegen ihre Kolleg*innen durchsetzen – eine Zwickmühle, vor allem für Studierende, die befreundet sind oder zusammenarbeiten. Das Geld für Förderungen kommt meist von Unternehmen oder Stiftungen, die mit Kunst und Kultur ihr Image pflegen oder wiederherstellen wollen. So wird das internationale Austauschprogramm für Kunsthochschulen Art School Alliance durch die Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. gefördert, die schon im Nationalsozialismus Kulturpreise vergeben hat – vor allem zur Förderung des Deutschtums. Der Gründer Alfred Toepfer beschäftigte auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch führende NS-Funktionäre.
Keine Einzelfälle. Mit dem Fokus auf die Aufnahme der „Besten“ entscheiden sich viele Kunsthochschulen für eine neoliberal orientierte Ausbildung. Eine bedingungslose oder zumindest bedingungsärmere Unterstützung, die flächendeckend gestreut wird, gibt es selten. Oft wird dabei auf den Kunstmarkt und den Wettbewerb der späteren Berufsrealität verwiesen, die für viele Studierende nach dem Studium aber gar keine realistische Option mehr ist. Um herauszufinden, ob und wie viele der ehemaligen Studierenden nach dem Kunststudium noch künstlerisch aktiv sind, führte die HFBK 2019 eine Befragung unter den Absolvent*innen durch. Demnach sind rund neunzig Prozent der Befragten weiterhin künstlerisch tätig, 66 Prozent können von einer „künstlerischen und/oder kunstnahen Tätigkeit“ leben. Diese Zahlen sind in den Worten der HFBK „erfreulich“ und eindeutig höher als die polemische Vier-von-sechzig-Prognose des eingangs erwähnten Professors. Warum aber von den insgesamt 1.313 kontaktierten Absolvent*innen nur ein Viertel den Fragebogen überhaupt vollständig ausgefüllt hat, steht nur im 104-seitigen Studienbericht selbst. Warum die übrigen 915 gar nicht erst teilgenommen haben, untersucht die Studie nicht. Über die Gründe kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden. Wer vom Studium an der HFBK enttäuscht war, wollte der Hochschule möglicherweise mit der Umfrage nicht auch noch Material zur Imagepflege liefern. Ein anderer Grund könnte sein, dass die Beschäftigung mit der Hochschulzeit Erinnerungen an Diskriminierungen und Traumata hochholt: Einige Absolvent*innen berichteten im Fragebogen von Sexismus oder sexueller Belästigung im Studium. Und das sind keine Einzelfälle. Auch an der Kölner Kunsthochschule für Medien (KHM) wurden 2018 sexuelle Belästigungen publik. Die Vorwürfe richteten sich gegen Professor Gebhard Henke, der trotz vieler Proteste von Studierenden noch zwei weitere Jahre an der KHM lehrte.
Zu subjektiv. Dass Kunstuniversitäten sich mit struktureller Diskriminierung wie Sexismus, Rassismus, Klassismus, Ableismus oder Queer- und Transfeindlichkeit explizit und konstruktiv beschäftigen, ist eine Seltenheit. Dies betrifft sowohl offensichtliche Ausschlussmechanismen als auch internalisierte Wertesysteme. Die Arbeiten feministischer Künstler*innen werden oft als zu subjektiv abgewertet, die Werke nicht-weißer Künstler*innen als zu politisch und künstlerisch nicht wertvoll abgetan. Auch wenn sich vor allem die Professor*innen gerne als Norm- und Regelbrecher*innen darstellen, sind ihre Praktiken im Grunde sehr regelkonform und dienen hauptsächlich patriarchalen, weißen und neoliberalen Interessen. Das bestätigt auch die Wiener Künstlerin Sheri Avraham: „Die gläserne Decke in der Kunsthochschule ist nicht aus Glas. Sie ist aus Beton. Und jeder kann sie sehen.“ Avraham ist Absolventin der Akademie der bildenden Künste Wien. Sie arbeitet als Vorstandsmitglied beim Berufsverband IG Bildende Kunst und als Co-Kuratorin bei D/ARTS, einem Projektbüro, das sich für mehr Diversität in der Wiener Kulturlandschaft einsetzt. „Als working class Migrantin habe ich in der Akademie viele Risiken auf mich genommen, täglich! Ich hatte kein finanzielles Sicherheitsnetz, aber dafür habe ich viele Verbündete getroffen.“ Avraham erzählt von den Studierendenprotesten von 2009/2010, aus denen zwei selbstorganisierte Gruppen hervorgegangen sind, bei denen sie mitgewirkt hat: Plattform Geschichtspolitik und AG Antirassistische Arbeit. „Wir haben z. B. Führungen durch die Akademie angeboten, bei denen wir auf antisemitische und rassistische Spuren und Zeichen hingewiesen haben.“
Kollaborationen und Austausch statt Self-Branding und Kunststars – in vielen Kunstuniversitäten finden sich ähnliche Gruppen, Kollektive und freie Klassen ohne Professor*in. Sie verstehen Kunst nicht als Produkt, das sich nun mal besser oder schlechter verkauft, sondern als Form des gemeinsamen Denkens und als gesellschaftliche Kritik. Wenn es möglich ist, sich vom neoliberalen Wertesystem zu befreien, kann die Kunstuniversität so auch ein Ort für widerständiges Arbeiten werden. Das sagt auch Avraham. Auf die Frage, ob sie aus heutiger Perspektive noch einmal an der Kunstuni studieren würde, sagt sie: „Auf jeden Fall! Wir dürfen nicht unterschätzen, wie viele Ressourcen es in der Uni gibt, Materialien, Equipment, Räume, den Status als Studierende*r. Das ist viel wert. Aber wir dürfen deswegen nicht glauben, dass die Institution uns unbedingt wohlgesonnen ist. Die eigentliche Lehre findet – so sagen die Theoretiker Fred Moten und Stefano Harney – auf den Fluren und in den Pausen statt, mit Freund*innen und Verbündeten.“ •
Franzis Kabisch lebt heute von einer „künstlerischen und/oder kunstnahen Tätigkeit“ in Berlin und Wien, hat an der HFBK-Umfrage aber nicht teilgenommen.