MAREICE KAISER will nicht nur die Mutti am Pflegebett ihres behinderten Kindes sein. Das wird aber von ihr erwartet.
„Besser geht’s nicht, sieh nur hin. Das ist Leben, wir sind drin.“ Inga Humpe trällert weiter aus dem Telefonhörer. Die Uhr meines Telefons zeigt mir an, dass ich bereits über acht Minuten in der Warteschleife der Krankenkasse hänge. Klar, ich habe natürlich nichts Besseres zu tun. Ich bin schließlich die Mutter eines behinderten Kindes. Mein Job ist es, mein Kind zu pflegen und mich um die Organisation der Pflege zu kümmern. Ich schreibe das nicht, weil ich es denke. Ich schreibe es, weil es mir immer und immer wieder suggeriert wird. „Müssen Sie denn unbedingt arbeiten? Sie haben doch ein schwerbehindertes Kind! Ist das nicht Stress genug?“
„Das ist Leben, wir sind drin“. Einsprüche verfassen, Anträge stellen, Kommunikation mit Hilfsmittelfirmen, Organisation der Therapien. Ich soll nicht das Heimchen am Herd sein, sondern die Mutti am Pflegebett. Aber das bin ich nicht. Und nun? „Das ist Leben, wir sind drin“, trällert die Humpe, und würde sie vor mir stehen, ich würde ihr ein paar Takte erzählen. Oder sie wenigstens fragen, wie viel Geld sie dafür bekommen hat, ihren Song zu verkaufen. Oder ihr wenigstens erzählen, in welchen Situationen ich ihr Lied schon hören musste. Wartend darauf, dass sich jemand anhört, was ich, die Bittstellerin, schon wieder will.
Stattdessen habe ich jetzt, nach über zehn Minuten in der Warteschleife, die Sachbearbeiterin der Krankenkasse dran. Was war noch mal der Grund meines Anrufs? Das Gedudel hat so lange gedauert, dass ich es gar nicht mehr genau weiß. Gretas achtstellige Nummer bei der Kasse weiß ich mittlerweile auswendig, ich schaue auf die Notizen in meinem Kalender, der vor mir auf dem Schreibtisch liegt. „Ambubeutel“ steht da und die Daten meiner letzten Telefonate mit der Krankenkasse. Greta benötigt eine neue Maske für den Ambubeutel. Das ist ein Gerät – sieht ähnlich aus wie ein Luftballon –, das für den Notfall gedacht ist. Sollte Gretas Atmung mal aussetzen oder sie andere schwerwiegende Probleme mit der Atmung bekommen, was bei ihrem besonderen Mund-Zungen-Zähne-Dings nicht unwahrscheinlich ist, müssten wir sie mit Hilfe des Ambubeutels beatmen.
Der Pflegedienst hat seine Arbeit nur unter der Bedingung aufgenommen, dass ein Ambubeutel immer in Gretas Nähe ist. Für den Notfall müssen sie gewappnet sein. Nun ist aber etwas passiert, das anscheinend im Plan der Krankenkasse nicht vorkommt: Greta ist gewachsen. Die Gesichtsmaske, die wir ihr im Notfall auf das Gesicht setzen würden, passt nicht mehr. Logische Schlussfolgerung: Eine neue Gesichtsmaske muss her. So ein kleines Ding aus Plastik, Wert: nicht mehr als fünfzig Euro.
Ich will nicht zynisch werden. Ich habe mir also beim letzten Kinderarztbesuch eine Verordnung des Arztes geben lassen und diese bei der Apotheke eingereicht. Die Apotheke reicht die Verordnung bei der Krankenkasse ein, die Krankenkasse lehnt ab. So weit der normale Ablauf der strukturellen Diskriminierung, die ich mittlerweile schon gewohnt bin. Dann geht die Verordnung an die Clearingstelle und von dort aus wieder zurück zur Krankenkasse, die den Kostenvoranschlag wieder an unseren Apotheker schickt mit dem Hinweis: „Keine Genehmigung, da bereits im September 2015 neues Gerät bewilligt wurde. Da das Kind älter als drei Jahre ist, gibt es keine weiteren Kosten für eine Maske!“ Interessant auf so einem Schriftstück ist ja auch das Ausrufezeichen. Aber ich will nicht zynisch werden; das ist das Letzte, was ich will – und es ist verdammt schwer, es nicht zu werden.
Die Hilfsmittel, die Greta braucht, kosten keine horrenden Summen. Greta braucht Windeln, ein Inhalationsgerät, Flüssigkeit für Darmspülungen, Spritzen, Sondenkost. Sie fährt zusammen mit ihrer Schwester in einem Doppel-Kinderwagen; irgendwann wird sie zu groß für ihn werden. Sie wird einen Rollstuhl brauchen, damit wir sie zur Kita oder in die Schule bringen können, mit ihr auf den Spielplatz fahren, einkaufen können. All ihre Hilfsmittel benötigt sie zur gesellschaftlichen Teilhabe; einfach, um dabei zu sein. So wie nicht behinderte Kinder einen Toilettensitz bekommen, wenn sie anfangen, alleine auf die Toilette zu gehen, benötigt Greta Windeln und Hilfe beim Wickeln. Beides sollte ihr so selbstverständlich zur Verfügung stehen wie ihrer kleinen Schwester ein Toilettensitz. So ist es aber leider nicht. Jedes Hilfsmittel muss erkämpft werden – jeder Kampf zeigt mir als Mutter: Mein Kind ist nicht erwünscht. Mein Kind ist eine Last. Mein Kind ist eine finanzielle Belastung für die Gesellschaft. Ich bin die Bittstellerin.
Inklusives Menschenbild. In einer inklusiven Gesellschaft, wie ich sie mir wünsche, kämen die Hilfsangebote zu den Familien mit Kindern mit Behinderung. Krankenkassen würden den Familien individuelle Angebote machen, je nach Entwicklungsstand des Kindes. Nur mit einer umfangreichen Unterstützung, die eben auch zeigt, dass behinderte Kinder willkommen sind, kann eine inklusive Gesellschaft möglich werden. Es würden keine Versorgungsengpässe entstehen, Eltern behinderter Kinder könnten – je nach Bedarf und Lust – ihre Erwerbsarbeit reduzieren oder gesellschaftliche Hilfen in Anspruch nehmen, oder beides. Wir hätten eine Kultur mit einem inklusiven Menschenbild, in der nicht nur die Starken und Leistungsfähigen etwas gelten, sondern alle. Dann fänden wir selbst es auch nicht so schwer, diesem Bild nicht zu entsprechen. Wir hätten alle etwas davon.
Mareice Kaiser bloggt auf „Kaiserinnenreich. Das inklusive Familienblog“ über das Leben mit ihren beiden Töchtern. Seit eine der beiden unerwartet gestorben ist, fungiert der Blog als Plattform für andere Mütter behinderter Kinder, die die Journalistin in Interviews vorstellt.
Auszug aus Mareice Kaiser: Alles inklusive – Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter.
S. Fischer Verlag