Jahrzehntelang nahmen wir das übergriffige Verhalten von Rockstars schulterzuckend hin. Bringt der Fall Marilyn Manson die Wende? Von Brigitte Theißl und Vanessa Spanbauer
Hiding in plain sight: Jene englische Redewendung, die sich nur unzureichend ins Deutsche übersetzen lässt, beschreibt die Karriere Marilyn Mansons erschreckend treffend. „The name of my abuser is Brian Warner, also known to the world as Marilyn Manson“, postet Evan Rachel Wood im Februar auf Instragram. Bereits 2018 hatte die Schauspielerin bei einer Anhörung im Kongress über psychische Folter und Vergewaltigung berichtet – ohne jedoch den Namen des Täters zu nennen.
Ihr schonungsloser Bericht über die Gewaltbeziehung zu Manson motivierte nun auch weitere Opfer dazu, ihr Schweigen zu brechen. Die Vorwürfe der Frauen – darunter Schauspielerin Esmé Bianco und Model Sarah McNeilly – ähneln sich stark: Manson habe seine Partnerinnen vergewaltigt und beim Sex brutal verletzt, sie psychisch manipuliert und dabei u. a. Schlafentzug als wirksames Mittel eingesetzt. „Er kontrollierte jeden Aspekt meines Lebens“, erzählte Bianco kürzlich dem „People“-Magazin. Als er sie eines Nachts mit einer Axt durch das Haus jagte, war der Serienstar überzeugt: „Jetzt wird er mich töten.“
Geschichte der Gewalt. Auch Fans berichten von entwürdigender Fleischbeschau im Tourbus, junge Frauen seien gezielt für Manson ausgesucht worden, so der Bericht einer britischen Fotografin. Mansons Reaktion zielt indes auf jenes Image des „Schockrockers“ ab, das er selbst jahrzehntelang befeuerte: „Offensichtlich sind meine Kunst und mein Leben seit Langem Magneten für Kontroversen, aber diese jüngsten Behauptungen über mich sind schreckliche Verzerrungen der Realität“, schreibt er auf seinem Instagram-Profil.
Mit Goth-Make-up, BDSM-Outfits und satanischen Lyrics inszenierte sich Manson in den 90er-Jahren als Konservativen-Schreck und stieg so in die A-Liga der Rockstars auf. Nach seinem Auftritt in Michael Moores oscarprämierter Dokumentation „Bowling for Colombine“ schrieb man ihm auch intellektuelle Qualitäten zu: Seine verstörende Bühneninszenierung persifliere die US-amerikanische Konsumkultur mitsamt ihrer Bieder- und Scheinheiligkeit, so die popkulturelle Analyse. Mit seiner Frauenfeindlichkeit und der fehlenden Sensibilität für Grenzüberschreitungen hat Manson allerdings nie hinter dem Berg gehalten.
Bereits in seiner 1998 erschienenen Bestseller-Biografie „The Long Hard Road Out Of Hell“ beschreibt Brian Warner Attacken auf seine Mutter, weibliche Fans, denen er harten Alkohol untergejubelt hatte, und einen Übergriff auf eine bewusstlose junge Frau. Er träume regelmäßig davon, Evan Rachel Wood den Schädel einzuschlagen, sagte er in einem Interview nach der Trennung.
Alltägliche Misogynie. Als Howard Stern ihn 2002 nach der Trennung von Rose McGowan fragte, antwortete Manson, dass man eine Frau, die Analsex verweigere, nicht heiraten könne – seine neue Partnerin hingegen mache alles, was er wolle. Dass die Studio-Crew all das weglachte, mag an Stern liegen – aber auch am Status, den wir Popstars seit Jahrzehnten zubilligen. „Offene Frauenfeindlichkeit und sexuelle Rüpelhaftigkeit sind seit Langem in der Musikkultur verankert, sowohl bei den Künstlern als auch bei den Menschen in ihrem Umfeld und den Strukturen, in denen sie arbeiten“, formuliert es Barbara Ellen im „Guardian“.
Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll, diese Formel galt stets nur für (mächtige) Männer und entschuldigte Backstage-Prügeleien ebenso wie Sex mit Minderjährigen. So hatten etwa – die bis heute gefeierten – David Bowie und Iggy Pop Affären mit Teenagern, Eagles-Sänger Don Henley wurde wegen „Verführung Minderjähriger“ verurteilt, nachdem zwei mit Drogen vollgepumpte Mädchen in seinem Haus verhaftet worden waren. Die Verurteilung kostete Henley nur die Strafe von 2500 Dollar, im Hit „Dirty Laundry“ beklagte er später sensationsgierige Journalist*innen.
Starstruck. Der oft große Altersunterschied zwischen Stars und ihren Fans ist in das Musikbusiness geradezu eingeschrieben. „Groupies“, meist sehr junge Frauen, die ihrem Idol nahekommen möchten, eine akzeptierte Kultur des Exzesses und eine ganze Entourage, die dazu engagiert wurde, Stars ihre Wünsche zu erfüllen, begünstigen ein Klima des Machtmissbrauchs. Rock ’n’ Roll ist dabei immer noch Männersache. Tontechniker, Bodyguards, Manager, die Bühnenaufbau-Crew und Roadies – die gesamte Crew auf Tour ist im Business meist männlich. Dass nach einer Show oft ausgewählte Frauen Backstage geladen werden und Drogen Teil des Spiels sind, erzählen viele, die das Business kennen.
Und auch hier ist eine Kultur des Schweigens (siehe S. 15) die Norm, wie der Fall Marilyn Manson erneut demonstriert: Mitarbeiter in seinem Umfeld erzählen mittlerweile von „Beobachtungen“, die britische Sängerin Ellie Rowsell wirft Manson vor, ihr bei einem Festival backstage unter den Rock gefilmt zu haben. „Das macht er dauernd“, sei die schulterzuckende Reaktion seines Managers gewesen.
„Die entscheidende Frage ist doch: Warum wird dieses Verhalten in der Musikindustrie gebilligt, warum ziehen die Labels keine Konsequenzen? Warum wiegt das Leben von Frauen – oder auch betroffenen Männern – nicht mehr, als viel Geld zu verdienen mit den großen Stars der Branche? Diese Frage sollte man den Manager*innen dieser Musiker stellen“, sagt Rosa Reitsamer, Professorin für Musiksoziologie auf an.schläge-Anfrage.
Zumindest bei Marilyn Manson reagierten Label und Management direkt nach Evan Rachel Woods Statement und kündigten den Vertrag mit dem Musiker. Seit die MeToo-Bewegung nachhaltig die Schlagzeilen dominierte, verschwinden Vorwürfe des jahrzehntelangen Machtmissbrauchs nicht mehr einfach so im Archiv.
It’s a man’s world. „Man kann schon sagen, dass die komplette Populärmusik-Branche ein ziemlich männlich dominiertes Feld ist. Es beginnt sich langsam zu wandeln, aber es sind noch kleine Schritte“, sagt Birgit Denk im an.schläge-Interview. Seit über dreißig Jahren ist die Sängerin im Geschäft. Anders als der überschaubare Wikipedia-Eintrag, der spärliche Informationen wie den Geburtsort Hainburg auflistet, würdigt sie Ö1-Online als „eine der wichtigsten weiblichen Vertreterinnen der aktuellen österreichischen Populärmusik-Szene“. Sich im Männer-Business zu behaupten, das mache eine enorme Anpassungsleistung nötig, erzählt Denk. „Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten als Frau. Entweder man ist die sexy Oide oder man ist die burschikose Goschate – dem musste man sich unterwerfen.“ Denk boxte sich als „Goschate“ durch, Geschichten von Kolleginnen kennt sie unzählige: „Mädchen, ich bring dich groß raus“, das sei nicht nur ein Klischee, sondern Realität im Business. „Und das in einer Branche, wo man gesagt hat: wurscht, das ist Rock ’n’ Roll.“ Die Musikbranche sei anders, darauf einigte man sich unausgesprochen, erzählt Denk. „Dieses ,Wir sind Künstler und wir sind so frei, nicht konservativ.‘“
Erst seit Übergriffe und Machtmissbrauch breit in der Öffentlichkeit diskutiert werden, blicke man auch innerhalb der Branche zunehmend kritisch zurück, sagt Denk.Abhängigkeiten wiegen umso schwerer, je überschaubarer der Markt. Die MeToo-Bewegung und zahlreiche prominente Täter demonstrieren aber auch anschaulich, wie sehr jede einzelne Person gefragt ist, nicht länger nach den (falschen) Regeln zu spielen.
„Am Fall R. Kelly sieht man z. B. sehr gut, dass das Ganze nur funktioniert, weil viele Menschen das System stützen, es aufrechterhalten – und darunter sind auch Frauen“, sagt Musiksoziologin Rosa Reitsamer. Jahrzehntelang beutete der R’n’B-Superstar Minderjährige aus, verübte sexuelle und psychische Gewalt. Gezielt suchte er nach jungen Schwarzen Frauen aus der Arbeiter*innenklasse, deren Familien einem mächtigen Millionär wie Kelly wenig entgegenzusetzen hatten. Erst die mehrteilige Dokumentation „Surviving R. Kelly“ brachte den Fall erneut ins Rollen. „Es bedurfte eines sechsstündigen Fernsehereignisses, um das zu erreichen, was mehrere öffentliche Klagen, Bilder von sexuellem Kindesmissbrauch und ein Prozess (…) und die #MuteRKelly-Bewegung nicht schafften: das köchelnde öffentliche Unbehagen – oder, schlimmer noch, die vorsätzliche Blindheit – über das Verhalten des Sängers zum Sieden zu bringen“, schrieb der „Guardian“ im vergangenen Jahr. Kelly sitzt aktuell in Haft, im August startet sein bereits mehrfach verschobener Prozess.
Mächtige Worte. Auch im Fall Michael Jackson brachte erst ein Dokumentarfilm die Wende: „Leaving Neverland“, zehn Jahre nach dem Tod des King of Pop veröffentlicht, stieß den Superstar vom Sockel. In der rund vierstündigen Dokumentation erzählen Wade Robson und James Safechuck davon, wie Jackson sie als Kinder und im Jugendalter mit Aufmerksamkeit und Geschenken überhäufte, sie manipulierte, missbrauchte. Der einfühlsame Film fern jeder Sensationsgier zeigt eindrucksvoll, wie geschickt Jackson am eigenen Mythos arbeitete, der ihn unangreifbar machen sollte. Noch heute werden Robson und Safechuck von fanatischen Jackson-Fans belästigt, regelmäßig tritt Jacksons ehemaliger Anwalt in Talkshows auf, um die beiden durch den Dreck zu ziehen. Dabei führt „Leaving Neverland“ auch eindringlich vor Augen, warum die beiden Männer erst viele Jahre später öffentlich über ihre Erlebnisse sprachen: Scham, nagende Selbstzweifel und Schuldgefühle, die Angst davor, medial zerschmettert zu werden.
Den entscheidenden Ausschlag dafür, das Schweigen zu brechen, habe nicht nur die Geburt ihrer eigenen Söhne gebracht, es waren auch Auftritte anderer Betroffener. „Ich bin es leid, in Angst vor Vergeltung, Verleumdung oder Erpressung zu leben. Ich bin hier, um diesen gefährlichen Mann zu entlarven und die vielen Industrien zu benennen, die ihn ermöglicht haben, bevor er noch mehr Leben ruiniert. Ich stehe an der Seite der vielen Opfer, die nicht länger schweigen werden“, so formuliert es Evan Rachel Wood.