Die Influencer*innen-Kultur auf Instagram verkauft nicht nur Produkte, sondern auch narzisstische Selbstoptimierung. Das gilt auch für den Hashtag-Aktivismus. Von Astrid Exner.
Es ist ein ganz normaler Mittwoch im Oktober 2010. Was als übergriffige Bewertungsplattform für die Attraktivität von Frauen gegründet wurde, erobert gerade unter dem Namen Facebook die Welt. Das brandneue iPhone 4 eignet sich bestens, um dort schlecht belichtete und unbearbeitete Handyfotos der letzten Partynacht hochzuladen. Doch an diesem Mittwoch veröffentlichen zwei Studienkollegen aus Stanford die App Instagram und verändern damit auch die Bildsprache der Mainstream-Netzkultur nachhaltig. Und sie verändern die Ökonomie der Prominenz.
Der Weg dorthin wurde von Paris Hilton kartografiert. Die Hotelerbin und Realityshow-Darstellerin wurde schlagartig berühmt, als ihr Ex-Freund gegen ihren Willen ein privates Sextape veröffentlichte. Hilton trat die Flucht nach vorne an und inszenierte ihren extravaganten Party-Lebensstil als It-Girl selbstbewusst. Heute behauptet sie gar, das Selfie erfunden zu haben. Auch ihre ehemalige Assistentin Kim Kardashian baute sich nach demselben Muster ein Imperium auf. Mit 196 Millionen Followerinnen auf Instagram ist sie eine der berühmtesten Influencerinnen der Welt, übertroffen nur von ihrer Halbschwester Kylie Jenner.
Ruhm als Selbstzweck. Influencerinnen sind Berühmtheiten, die nicht viel mit klassischen Stars gemeinsam haben. Sie inszenieren ihr mehr oder weniger alltägliches Leben auf eine vermeintlich authentische Art und Weise. Ihr Erfolg baut auf geschicktem Selbstmarketing auf, das der Steigerung ihrer Reichweite auf Social Media dient. Ihre Rezipientinnen lieben die Illusion der absoluten Nahbarkeit und wollen es ihnen gleichtun. Kein Wunder, dass der Berufswunsch unzähliger junger Menschen mittlerweile Influencerin ist. Hauptsache, Einfluss haben, lautet die Devise – wer womit beeinflusst werden soll, ist zweitrangig. Wer möglichst viele Menschen erreicht, kann nämlich als Werbefläche für Firmen beachtliche Summen verdienen.
Hauptziel der Influencerinnen-Welt ist die Monetarisierung, und Instagram mit einer Milliarde Accounts weltweit ist die derzeit lukrativste Plattform dafür. Im Durchschnitt verbringen Userinnen täglich 28 Minuten auf der Plattform. Schätzungen zufolge tummeln sich rund 500.000 aktive Influencerinnen mit einer Reichweite von über 15.000 Menschen unter ihnen. In Österreich soll es laut „Kurier“ immerhin etwa zweihundert professionelle Influencerinnen geben, die von ihrer Arbeit leben können. Sie verlangen drei- bis vierstellige Beträge für ein bezahltes Posting.
Kuratieren der eigenen Existenz. Die Grazerin Lisa-Marie Schiffner ist mit 1,3 Millionen Abonnentinnen der Superstar unter den hiesigen Influencerinnen. Die 19-Jährige posiert auf ihrem Profil in Unterwäsche vor verschneiter Kulisse und bei Sonnenuntergang im Pool, küsst den Babybauch ihrer Mutter und schwingt ihre Haarpracht – sechs Posts darunter macht sie Werbung für einen Lockenstab. Schiffner überlässt nichts dem Zufall. Posts, in denen Gesichter zu sehen sind, bekommen um 38 Prozent mehr Likes, wie eine Studie des Georgia Institute of Technology und Yahoo Labs zeigt. Auf jedem ihrer Fotos sind also Menschen – manchmal gleich mehrere, immer aber sie selbst. Mit einer matten Ästhetik voller Weiß-, Beige- und Rosé-Töne reiht sich jedes neue Bild in den kuratierten Feed ein.
Influencerinnen richten ihr Leben nach diesem Feed aus; das Auge ist das unangefochtene Tor zu ihrer Welt. Beim Essen geht es nicht um den Geschmack, sondern um die Präsentation auf dem Teller. Eine gute Yoga-Session ist nicht etwa eine, die guttut, sondern eine, in der Outfit und Pose aufeinander abgestimmt sind. Der Urlaub ist dann toll, wenn die gewählte Fotokulisse stimmungsvoll eingefangen wurde. Dass ästhetische Perfektion oberste Priorität hat, lässt dabei nicht viel Spielraum für Individualität, denn Normschönheit bringt die meisten Likes. Das ist nicht neu. Wer ein Star werden wollte, musste immer schon auch normschön sein. Doch der immense negative Einfluss, den die Bilderflut auf Instagram auf die psychische Gesundheit von 14- bis 24-Jährigen hat, ist beispiellos, so das Ergebnis einer Umfrage der britischen Royal Society for Public Health: Instagram verstärkt unrealistische Körperbilder, Schlafstörungen, Angstzustände, Depressionen, Einsamkeit, Mobbing und die Angst, etwas zu verpassen.
„Personal Branding“ nennt sich im Fachjargon die präzise Auswahl von Ausschnitten aus dem eigenen Leben zum Zweck der Selbstdarstellung. Es gab sie lange vor Instagram: Viele Influencerinnen haben ursprünglich als Bloggerinnen begonnen und auf ihren eigenen Webseiten mittels chronologisch geordneter Einträge quasi Tagebuch geführt. Mit dem Siegeszug von Instagram nahm die Relevanz des geschriebenen Wortes ab – und die der Bilder zu. Gleichzeitig zwingt das Instagram-Monopol alle dazu, sich dem prüden Frauenbild der Plattform zu unterwerfen, auf der Menstruationsblut, (weibliche) Nippel oder Schamhaare tabu sind.
Der Einfluss des Geldes. Das Narrativ der Authentizität ist die geheime Zutat, die das Influencerinnen-Marketing so interessant für Unternehmen macht. Social-Media-Berühmtheiten kooperieren mit Firmen, indem sie deren Waren auf ihren Kanälen anpreisen. Die Fans akzeptieren diese Produktplatzierungen, weil ihre Vorbilder die Kooperationen selbst auswählen. Das steigert die Werbewirkung: Wenn das Idol so selektiv mit Werbeschaltungen umgeht, dann muss es vom Produkt des gesponserten Post ja wirklich überzeugt sein.
Wenn es dabei um den Lockenstab von Lisa-Marie Schiffner geht, ist das kapitalistische Kalkül offensichtlich. Aber der kapitalistische Wurm ist auch im Hashtag Feminismus drin. Ganz unironisch posieren Influencerinnen in T-Shirts mit der Aufschrift „This is what a feminist looks like“ und blenden dabei aus, dass diese Shirts von Frauen in asiatischen Sweatshops unter miesen Bedingungen produziert wurden. Der neoliberale Spin des Instagram-Feminismus kulminiert in der allgegenwärtigen Botschaft von Empowerment: Sei immer die beste Version deiner selbst! Das ist nichts anderes als ein Wettbewerbsmantra. Statt sich mit den eigenen Ecken und Kanten anzufreunden, fördert das Schlagwort Empowerment den Druck, ständig an sich selbst zu arbeiten. Und im perfidesten Fall verlangt Empowerment, uns gar ständig selbst zu lieben.
Narzissmus und Empowerment. Mit Schlagwörtern wie Body Positivity gaukeln sich Influencerinnen und Userinnen gleichermaßen eine gelassene Einstellung zum eigenen Körper abseits von Normschönheit vor. Nur: Diese Gelassenheit hängt wieder davon ab, wie viel Zuspruch wir für den Hashtag-Aktivismus bekommen. Die Dokumentation „The Social Dilemma“ führt vor, dass die Architekten (sic) der Social Networks ganz bewusst mit der menschlichen Sucht nach Likes spielen. So sind auch Body Positivity und Empowerment nur weitere Kategorisierungen innerhalb eines Systems, in dem alles eine Ware ist. Die Plattform gibt das kapitalistische Netz vor, in dessen Rahmen wir uns bewegen und immer auch verkaufen dürfen. Auch wer sich als Aktivistin für Nachhaltigkeit, Achtsamkeit, psychische Gesundheit oder linken Feminismus einsetzen und damit große Reichweiten generieren will, muss Geltungsdrang und Spaß am Personal Branding haben.
Nun war 2020 auch in der Influencerinnenwelt kein leichtes Jahr. Mit Reisen, Großevents, Konsumrausch und Glamour außer Reichweite gibt es nur wenige lukrative Einflussbereiche. Mehr noch: Vor dem Hintergrund einer globalen Pandemie kam es zu einem Backlash gegen die Trivialität und Abgehobenheit des hochstilisierten Authentizitäts-Scam. Fridays For Future und Black Lives Matter haben das politische Bewusstsein junger Menschen gestärkt. Diese Bewegungen haben deutlich gemacht, dass politischer Aktivismus immer ein kollektives Unterfangen sein sollte, bei dem die Sache und nicht die Person im Vordergrund steht. Es ist also fraglich, ob sich das hyperindividualistische Selbstverwirklichungsmantra des Insta-Kapitalismus überhaupt mit linkem Aktivismus verbinden lässt. Aber wenn jemand diesen Spagat schafft, dann wohl die im Verbiegen geübten Influencerinnen.
Astrid Exner ist Feminismus-Kolumnistin im Popkulturmagazin „The Gap“. Sie hat Kunstgeschichte und Philosophie studiert und beschäftigt sich seit über einem Jahrzehnt beruflich mit Social Media, aktuell als Kommunikationsleiterin im WUK.