Vor ein paar Jahren war ich bei den libertären Tagen in Dresden, um dort einen Vortrag zu halten. Die Veranstalter*innen brachten mich bei einer jungen, akademischen Anarchistin unter. Als ich ihre schicke Wohnung in Dresden-Neustadt sah, dachte ich an die Zeit zwischen 1983 und 1985, als ich in dem Stadtteil wohnte und als Postbotin, bei der Altenhilfe und am Fließband arbeitete. Der Kontrast war enorm. Ich lebte dort zu DDR-Zeiten ganz oben unterm Dach mit Außenklo und Blech-Waschbecken im Hausflur. Ein Zimmer hatte eine Ofenheizung, eins war unbeheizt. Einen Gang musste ich als Küche nutzen und mir dafür selbst eine Herdplatte besorgen. Meine Nachbar*innen waren ein Punk, ein Hippie und eine zukünftige Theologie-Studentin, was bei ihr mit einer Protesthaltung zu tun hatte. Der sogenannte Hausbuchführer, der in der DDR die Daten aller Mieter*innen protokollieren sollte, sagte einmal zu uns: „Unter Hitler hätten sie euch vergast.“
Die Alaunstraße, in der wir damals wohnten, ist heute die Ausgehmeile eines gentrifizierten Stadtteils, in dem ich mir keine Wohnung mehr leisten könnte. Zu DDR-Zeiten zahlte ich dort eine Miete von 21,60 DDR-Mark. Wir hatten keine Angst vor Wohnungslosigkeit, denn es gab ein Recht auf Wohnen, zugleich verfiel allerdings die Altbausubstanz. Wir waren meilenweit entfernt vom heutigen Lebensstandard vieler akademischer Linker bürgerlicher Herkunft.
Am aktuellen Anarchismus begann ich zu zweifeln, als jemand in der Bibliothek der Freien in Berlin seine Doktorarbeit zu Hölderlin vorstellte. Er stilisierte Hölderlin zum Anarchisten, verschwieg aber peinlichst, dass dieser lange im Wahn lebte. Warum? Weil der anarchistische Vortragende auch nur bürgerliche Normen verinnerlicht hatte?
Ich bin froh, zwei Gesellschaftssysteme erlebt zu haben und vergleichen zu können. Aber mit der Rückwärtsgewandtheit, nicht nur bei den Rechten, sondern auch bei Linken, kann ich nichts anfangen. In Zeiten der Gefahr einer dystopischen Zukunft reden sich viele die Vergangenheit schön. Wir brauchen aber neue Alternativen und Utopien für eine bessere Welt. Anarchismus kann hilfreich sein, wenn die Anarchist*innen nicht in der Vergangenheit stecken bleiben
Anne Seeck ist aktive Rentnerin.