Ein Kommentar von ANDREA HEINZ
„Wer bin ich?”, war schon immer eine der beliebtesten philosophischen Quiz-Fragen. Mittlerweile beinhaltet die richtige Antwort jedoch keine Charaktereigenschaften mehr, sondern hauptsächlich eines: die Profession. Stellen wir uns irgendwo vor, sagen wir unseren Namen und danach meist ganz selbstverständlich nicht mehr wer, sondern was wir sind. Ob KünstlerIn, LehrerIn, SozialarbeiterIn, AnwältIn, JournalistIn – wir arbeiten im wahrsten Sinne an unserem Ich. Der Begriff „Beruf” nähert sich zunehmend dem an, was man früher unter „Berufung” verstand. Wir gehen keiner Tätigkeit mehr nach, sondern verfolgen ein großes Ziel: die Selbstverwirklichung. Man könnte meinen, wir arbeiten nicht mehr in erster Linie, um den Lebensunterhalt zu verdienen, sondern vielmehr, um „zu werden, was wir sind”.
Das zeitigt vordergründig erfreuliche Begleiterscheinungen. Wir müssen nicht mehr das „werden”, was unsere Eltern „sind”. Stattdessen suchen wir unseren Job nach dem aus, was wir gut und vor allem gerne machen. Das Hobby wird zum Beruf – und der Job damit unversehens zum Lebensinhalt. Die Arbeit scheint so ihren negativen Beigeschmack zu verlieren. Wir müssen nicht mehr in die Arbeit, wir gehen gerne, weil uns die Tätigkeit Spaß macht.
Genau darin steckt aber auch das Problem: Wer nicht für Geld arbeitet, sondern für seine/ihre Ideale, der/die ist noch erpressbarer, als es – bis zu einem gewissen Grad – jede/r einzelne ArbeitnehmerIn ohnehin schon ist. Und zudem: Wem der Beruf Berufung, die Arbeit Lebensinhalt ist, der/die wird nicht nur von der/m ChefIn überfordert, sondern von jemand ungleich anspruchsvollerem: sich selbst. Wer sich im Job selbst verwirklichen will, neigt gerne dazu, sich im wahrsten Sinne des Wortes aufzuarbeiten. Heraus kommen dann höchst ironische (und für Außenstehende durchaus witzig anzusehende) Situationen: Glückliche Menschen, die ihre Talente, ihre Stärken und ihre Ziele gefunden und durchaus erfolgreich verfolgt haben (war das nicht der Weg zu Erfolg und Zufriedenheit?!) sitzen übermüdet und völlig entkräftet beisammen, halten sich an ihren Kaffeetassen und Zigaretten fest und listen sich gegenseitig ihre Terminpläne auf.
Haben wir was falsch verstanden? Hätten wir uns einfach einen existenzsichernden Brotjob suchen sollen? Eine feste Anstellung, ein sicheres Einkommen, feste Arbeitszeiten, Feierabend, nach Hause kommen und – jetzt kommt’s – keinen Gedanken mehr an diesen Job verschwenden. Abends beim Bier über das Leben reden und nicht über die Arbeit. Eine Arbeit, die uns nicht mehr definiert, sondern in erster Linie einem Zweck dient: sich in der arbeitsfreien Zeit ein möglichst sorgenfreies Leben leisten zu können. Die Selbstverwirklichung ließe sich auf diese Weise ja ganz entspannt in der Freizeit betreiben.
Eine hoch romantische Vorstellung. Leider hat sie mit der Realität nicht viel zu tun. Nicht nur die sogenannten Freien Berufe sind vom Phänomen „Arbeit frisst Leben” betroffen, auch bislang klassische Nine-to-Five-Jobs verabschieden sich immer öfter von festen Arbeitszeiten. Beruf und Freizeit verschwimmen zunehmend. Selbstverständlich hat das mit einer Welt zu tun, deren Ziele grob zusammengefasst „Höher-Schneller-Weiter” lauten. Unternehmen in einer solchen Welt freuen sich natürlich, wenn der/die ArbeitnehmerIn arbeitet, als ginge es buchstäblich um sein/ihr Leben. Wer bei dieser Entwicklung aber letzten Endes zuerst kam – die nach Selbstverwirklichung strebenden ArbeitnehmerInnen oder die auf Leistungsmaximierung bedachten ArbeitgeberInnen –, das lässt sich kaum mehr mit Sicherheit feststellen. Die Situation dagegen lässt sich ohne Zweifel analysieren. Wer das tut, der/die kann sie reflektieren und – auf welche Art auch immer – damit umgehen. Und das Bewusstsein schließlich, dass Selbstverwirklichung nicht gleich Selbstzerstörung heißen muss, gibt zumindest ein wenig mehr Freiheit und Luft zum Leben.