Ein Kommentar von VERENA KETTNER
In den letzten Wochen ist so viel passiert in unserem schönen, braunen Staat, dass ich gar nicht genau weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht erst mal mit den positiven Ereignissen, immerhin haben wir es uns nach beinahe eineinhalb Jahren Bullshit, der uns regelmäßig von der türkis-blauen Regierung vor die Füße gespuckt wurde, verdient, ein bisschen zu feiern und uns zu freuen. Etwa darüber, dass das Ibiza-Video nicht nur zum Rücktritt von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache führte, sondern als Dominoeffekt auch gleich die ganze Regierung zu Fall brachte. Als ich am Samstag nach der Veröffentlichung des Videos am Ballhausplatz stand und mit Tausenden anderen Menschen Straches Abgang feierte, war mir noch nicht klar, was alles folgen würde: der Rauswurf sämtlicher blauer Minister_innen aus der Regierung, die Ankündigung von Neuwahlen, das erfolgreiche Misstrauensvotum gegen Kanzler Sebastian Kurz, das Einsetzen einer Expert_innenregierung unter der interimistischen Führung von Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein.
Einer Bundeskanzlerin. Österreich hat es 2019 tatsächlich geschafft, eine Frau mit der Führung des Landes zu betrauen. Die vergangenen Wochen glichen einem Austro-Krimi, den ein großer Teil der Bevölkerung gespannt mitverfolgte – nur irgendwie besser, weil real. Die vielen Demos und öffentlichen kollektiven Freudenbekundungen über die politischen Umwälzungen lassen sich im Nachhinein kaum mehr voneinander unterscheiden, und dass ich mir am Ballhausplatz beim Anblick der Vengaboys die Seele aus dem Leib grölen würde, hätte ich bis vor Kurzem auch nicht gedacht. So viel zu den erfreulichen Neuigkeiten. Wie immer gibt es aber auch die andere Seite der Medaille zu betrachten, die nicht ganz so prickelnd aussieht.
Natürlich ist es legitim, darüber entzückt zu sein, dass die FPÖ sich vorübergehend selbst ins Aus befördert hat und bei den Neuwahlen wohl auch nicht mehr in eine regierende Position kommen wird. Allerdings: Nix ist fix. Wenn wir uns die Ergebnisse der EU-Wahl ansehen, bei der die FPÖ nur 2,4 Prozentpunkte verlor, wird nur allzu deutlich, dass ein Ibiza-Video nicht reicht, um ein Land vom Rechtsextremismus zu befreien, denn die Menschen denken und wählen immer noch rechts. Außerdem würde die FPÖ auch innerhalb der Opposition immer noch über genügend realpolitische Macht verfügen, um ihren Rechtsextremismus weiter zu verbreiten.
Der Slogan „Ibiza antifascista“, der auf sämtlichen Demonstrationen in der letzten Zeit zu hören war und sich vom bekannten Demospruch „Alerta antifascista“ ableitet, ist leider nicht wahr. Nicht das Vorgehen gegen das offensichtlich faschistische Gedankengut der FPÖ und ihre menschenverachtenden Handlungen konnten diese stoppen, sondern ein Video, das „die guten Sitten und die Moral“ von Österreich beschmutzt und die Übertretung legaler Grenzen offenbart. Des Weiteren ist es zwar symbolisch ein schönes Zeichen, keine klar deklarierten Rechtsextremen im Parlament sitzen zu haben – doch ob eine Kurz-One-Man-Show, die uns möglicherweise nach den Neuwahlen bevorsteht, so viel Besserung bedeutet, ist höchst fragwürdig. Denn auch die ÖVP steht nicht nur für Sozialleistungskürzungen und Neoliberalisierung, sondern ebenso für ein reaktionäres und rechtes Weltbild.
Es scheint, als würden zwei Seiten in Österreich gegeneinander kämpfen, wenn alle versuchen, das Aufbrechen der alten Ordnung für sich zu nutzen. Dass die Porträts von Holocaust-Überlebenden im Rahmen einer Ausstellung auf der Wiener Ringstraße einerseits zerschnitten und mit Hakenkreuzen beschmiert wurden und sich nun andererseits eine Mahnwache aus der Zivilgesellschaft gebildet hat, um diese Bilder vor weiteren Übergriffen zu schützen, macht den momentanen Zwiespalt der Nation offenkundig. Wir sollten diesen Moment nutzen, denn gerade in Zeiten mit Rissen in der gesellschaftlichen Hegemonie kann am ehesten das Feuer entfacht werden, um den Kampf für eine Gegenhegemonie voranzutreiben.