Ein Kommentar von LEA SUSEMICHEL
Rassismus und Sexismus sind massive, uralte und kulturgeschichtlich tief verwurzelte Probleme – und sie sind mitunter zentrale Wahlmotive. Sie sind, wie Antisemitismus oder Homofeindlichkeit auch, keineswegs bloße Sekundärphänomene, die bei bestimmten Bevölkerungsgruppen erst durch Deklassierung, soziale Not und eigene klassistische Diskriminierungserfahrungen auftauchen. Doch genau das behauptet die in den vergangenen Jahren viel strapazierte „Notwehrthese“. Sie besagt, dass die abgehängten RechtswählerInnen quasi gar keine andere Chance hätten, als rassistischer Demagogie zu folgen, weil sie angesichts der weltfremden Abgehobenheit liberaler Eliten nur der Rechtspopulismus noch repräsentieren würde. Doch das Argument solch einer „Repräsentationslücke“ erklärt nicht nur nicht, warum man der SPÖ-Vorsitzenden zwar Saint-Tropez verübelt, dann aber ausgerechnet Ibiza-Schnösel Strache wählt oder gar den Typen aus dem marmor-goldenen Trump-Tower. Die These ist vielmehr eine klassistische Entmündigung, die ebenso wenig plausibel machen kann, warum die Allerabgehängtesten diese Typen meist eben gerade nicht wählen. „Niemand vermochte je zu begründen, warum gerade jene, die die New Economy am gründlichsten abgehängt hatte – nämlich die Schwarze und die hispanische Arbeiterschaft –, sich nie zu Trumps Anhängern gesellten“, schreibt Ta-Nehisi Coates nach der Präsidentschaftswahl in den USA. Zur Erinnerung: 94 Prozent der Schwarzen Frauen wählten Clinton.
Und, das ist wahrscheinlich die fatalste Konsequenz dieser Argumentationsstrategie: Sie leugnet die Notwendigkeit, rassistische und sexistische Denk- und Diskurstraditionen als eigene Probleme ernsthaft zu adressieren. Aber genau das muss unbedingt geschehen. Was nicht bedeutet – und das kann nicht stark genug betont werden –, dass nicht zugleich neoliberale Deklassierung und soziale Ungleichheit bekämpft werden müssen. Definitiv müssen sie das. Aber paradoxerweise geschieht auch das von links keineswegs mit der gebotenen Dringlichkeit. Stattdessen machen derweil innerlinke Auseinandersetzungen leider das Gegenteil. Schuld am globalen Rechtsruck, heißt es aus den unterschiedlichsten Richtungen, seien wahlweise linke Identitätspolitik oder die liberalen Eliten, die sich beide von den Problemen des „einfachen Mannes“ entfernt hätten. Denn der will eben nichts von Feminismus, Antirassismus und LGBTIQ-Rechten, sondern einfach nur seinen Arbeitsplatz sicher wissen. Sogenannte „kulturelle Fragen“– und darunter werden kurzerhand die emanzipatorischen Kämpfe sämtlicher Minderheiten subsummiert – hätten den Klassenkampf abgelöst, so das in unzähligen Variationen seit Jahren vorgebrachte Argument. Dass linke Identitätspolitik mitunter tatsächlich weit übers Ziel hinausschießt und sich liberalen Eliten wirklich viel vorwerfen lässt – geschenkt!
Aber definitiv sind weder die eine noch die anderen das Problem, über das wir vorrangig reden sollten. Denn wir sollten tatsächlich über Klassenkampf reden und über – eben nicht allein soziale – Gerechtigkeit für alle. Wir sollten darüber reden, dass mehr als 23 Prozent für die AfD in Thüringen viel mit westdeutscher Überheblichkeit und dem „Schlachthaus“ Treuhand der Nachwendezeit zu tun haben, das 13.000 Privatisierungen, den Verlust von drei Millionen Arbeitsplätzen und 130 Milliarden Euro zu verantworten hat. Aber der Erfolg der AfD und ein antisemitisches Attentat in Halle haben eben auch etwas mit einer in der DDR nicht aufgearbeiteten nationalsozialistischen Vergangenheit zu tun, eine Auseinandersetzung, die es unbedingt nachzuholen gilt.
Wenn die Linke also Diskurshoheit zurückerobern will, muss sie soziale Ungleichheit, die überall ständig weiter zunimmt, und den neoliberalen Wachstumsfetisch, der auch ökologisch verheerend ist, endlich glaubwürdig ins Zentrum ihrer Kritik stellen. Und nicht in den rechten Chor eines vermeintlichen „Kampf der Kulturen“ einstimmen. „Die Autofrage ist der Kulturkampf der Zukunft“, prognostiziert ein Zukunftsforscher dieser Tage im „Standard“. Das zum Beispiel wäre doch mal eine echte Alternative.