Während ich das hier schreibe, sind wir in der zweiten Woche Isolation. Es ist kein Ende absehbar und alles, was danach kommt, ist unsicher. Der Job, die Schule, meine mentale Gesundheit und die meiner Tochter. Was von den „Ausnahmemaßnahmen“ wird bleiben? Wie viel vom Bedürfnis an Überwachung? Wie viel von der Lust an gegenseitigem Denunzieren? Wie viel von der sozialen Distanz?
Ich bin überfordert. Meine Tochter lebt bei mir, der Teilzeit-Papa hat wichtige Arbeit „draußen“. Wir sind „drinnen“ und voll beschäftigt: Homeoffice, Homeschooling, Essen einkaufen und kochen, Nachrichten schauen, Nachrichten rechtzeitig abdrehen, ablenken, irgendwie in der Wohnung in Bewegung bleiben (ohne Balkon und Grünfläche in der Wohnungsumgebung), bei Sinnen bleiben – ein paar Tage Sonderurlaub helfen dabei. Da habe ich noch Glück.
Die „Gesellschaft steht still“ und wir müssen „entschleunigen“ – ich kann es nicht mehr hören! Das gilt doch nur für gesunde Privilegierte mit guten Jobs, ohne Betreuungspflichten, in gesicherten und angenehmen Wohnverhältnissen. Es gilt vor allem für Männer. Die meisten Frauen drehen im Privaten am Rad, weil alles an ihnen hängen bleibt – weil das schon immer so war. In kürzester Zeit hat eine riesige Verlagerung von „Gesellschaft“ und öffentlichen Aufgaben ins Private stattgefunden. Was „draußen“ entschleunigt ist, hat „innen“ für atemberaubende Beschleunigung gesorgt. Die Verantwortung wird ins Private übertragen. Arbeitgeber können, müssen aber keinen Sonderurlaub bei Betreuungspflichten geben. Wir sind entweder Frauen in unterbezahlten, systemerhaltenden Jobs, die sich täglich der Gefahr einer Infektion aussetzen und mit schlechtem Gewissen zu den Kindern heimkehren. Oder wir sind Heim-Arbeiterinnen, gleichzeitig Lehrerinnen, Psychologinnen, Hausfrauen. Ja, es ist eine Ausnahmesituation, die vorbeigeht. (Wann?) Ja, wir müssen alle zusammenhalten. (Wer ist wir?)
Einige Beispiele aus meinem Umfeld: Helga ist allein mit ihrem Sohn. Der Papa ist unerreichbar im Ausland, Unterhaltsvorschuss gibt es also auch keinen. Helga arbeitet Vollzeit, während ihr Sohn in die Volksschule geht. Seit zwei Wochen ist er daheim und braucht Hilfe beim Lernen, beim Austoben, beim Zur-Ruhe-Kommen. Helgas Arbeitgeber hat Homeoffice genehmigt, aber sie muss minutengenau notieren, was sie wann macht und darf keine Stunde weniger arbeiten als normalerweise, für Sonderurlaub muss sie lange kämpfen.
Maria ist Pensionistin, selbst nicht mehr ganz fit. Sie pflegt zuhause ihren krebskranken Mann. Bis vor zwei Wochen hatte Maria Unterstützung: eine Palliativpflegerin und der Hausarzt kamen regelmäßig, eine Nachbarin half im Haushalt, der Wirt im Ort lieferte wochentags das Mittagessen. Jede einzelne dieser Unterstützungen ist plötzlich weggebrochen. Maria ist ganz allein. Als sie vor einigen Tagen mit Fieber und Halsweh aufwachte – Panik. Sie kam bei der Gesundheitshotline 1450 zwar durch, dort wurde ihr allerdings erklärt, sie sei keine Risikoperson, solle den Hausarzt anrufen und „Abstand zum kranken Mann halten“ – ein Hohn.
Salma ist Mutter von vier Kindern, mit dem jüngsten in Karenz zuhause. Der Vater ist Apotheker und unabkömmlich. Als Salma von den Schulschließungen hört, bekommt sie Herzrasen: mit vier Kindern zuhause, die Kleinen beschäftigen, mit den Großen Lernen, Stillen, Haushalt. Die Großeltern dürfen nicht helfen. Die Spielplätze sind zu. Es brennt – als in einer Überforderungssituation einmal Öl in einer Pfanne Feuer fängt und die Feuerwehr einrücken muss, sogar im wahrsten Sinne.
Viel wird davon geredet, dass wir hoffentlich rasch wieder „zurück zum Normalzustand“ kommen. Nein, bloß nicht! Die aktuelle Krise ist wie ein Vergrößerungsglas auf diesen Normalzustand. Damit das „draußen“ gut funktioniert, wird „drinnen“ Schwerstarbeit geleistet – unbezahlt. Und ausgerechnet die „systemrelevanten“ Berufsgruppen beschäftigen großteils Frauen zu sehr niedrigen Löhnen. Es braucht nichts weniger als einen Systemwandel. Das Betteln um Hilfe muss ein Ende haben. Die Ignoranz muss ein Ende haben. Und weil wir schon dabei sind: Holt verdammt nochmal die geflüchteten Menschen aus den griechischen Lagern, die wir dort krepieren lassen, zu uns und bringt sie in den leeren Hotels unter!
Danke. Das ist auf den Punkt gebracht.
12 Kommentare zu „an.sage: Entschleunigung am Arsch“
Danke. Das ist auf den Punkt gebracht.
Ich war selbst alleinerziehend, jetzt ist meine Tochter erwachsen. Ich wünschte ich könnte all den tapferen Frauen und auch alleinerziehenden Männern helfen. Ich kann aber nur Kraft und Energie wünschen und euch die Nachbarschaftsgruppen auf nebenan.de und Facebook empfehlen. Auf Nachbarschaftshilfe Karlsruhe in Facebook gibt es wirklich viele tolle motivierte Helfer. Vielleicht findet sich ja eine Person die ihr in euren engsten Familienkreis aufnehmen könnt und euch die gesamte Zeit über unterstützt? Da ich Lehrerin bin, werde ich die nächsten Wochen Notfallbetreuung in der Schule machen und bin leider keine kurze Kette. Eine große Herzumarmung für euch alle!!
bravo für diesen beitrag vvielen dank
Danke! Der Artikel spricht mich aus der Seele.
Bitte bitte sagt es weiter – ALLE knapp 400 geförderten österreichischen Familienberatungsstellen sind weiterhin im Betrieb! Wir sind für alle unsere Klient’innen da, aktuell halt per Telefon oder Videocall. Bitte ruft an, schreibt ein Email oder wendet euch an die Onlineberatung! Auch wenn wir die Situation selbst nicht verändern können, wir können zumindest zuhören. Als Tankstelle fungieren, damit es wieder leichter wird. Wenigstens für eine Weile.
http://www.ehe-konflikte.com
http://www.familienberatung.gv.at
http://www.antworten.at
Warum arbeiten so viele Frauen in systemerhaltenden, unterbezahlten Jobs? Jeder bekommt in Österreich doch die gleichen Bildungschancen?
Vielleicht weil es wer machen muss. Stellen sie sich vor, wir alle hätten akademische Ausbildung! Es gäbe viel zu wenig Jobs für alle und keine Verkäuferin, keine Krankenschwester und keine Reinigungskräfte. Das wäre ganz unmöglich. Ich frage, warum gibt es überhaupt Berufe, die schwer unterbezahlt sind? Sollte nicht jeder für wichtige Arbeit genug verdienen u. LEBEN zu können?
Wow. Respekt und Hut ab vor diesem Artikel und den Geschichten und Schicksalen dahinter.
Danke Gabi!
Und als itupfelchen verschwinden die vielen alleinstehenden älteren Frauen, die sonst ein reges Sozialleben haben, aus der Gesellschaft und werden mit der “nur mit einer Person aus demselben Haushalt” geschaffen Isolation kaltgestellt. Auch eine Entschleunigung, die keine ist.
Eine kapitalistische Gesellschaft unterscheidet erbarmungslos zwischen angeblich „wertvoller“ und gut bezahlter Arbeit, wie beispielsweise dem Verwalten von Hedgefonds-Portfolios und „wertloser“ Arbeit, wie der Pflege von Angehörigen.
Danke Mums und Dads,
denke ich mir im Bett liegend und an die Decke starrend, neben mir mein quirliger, lebensfroher 2,5 Jahre alter Sohn. Telefonate am heutigen Tag mit befreundeten Eltern haben mir zu denken gegeben.
Wieder haben wir einen Tag geschafft. Bleiben nur noch…naja, wie lange werden wir das noch tragen (können)?
Wie lange kann ich meinem Kleinkind noch soziale Kontakte vorenthalten? Dabei seine Sehnsucht nach anderen Kindern spüren, begleitet von der wiederholten Frage: “Mama, gehn wir heute auf den Spielplatz?” oder die klare Aufforderung: “Mama, Schuhe anziehen, wir gehen zum Schwimmen!” Die Antworten sind variabel, je nach aktueller Nervenstärke und Kreativität.
Wir schaffen die Tage neben Homeoffice, gefürchteten Covid-19 Live Counts und Social distancing. Klar! Wir sind nicht die großen Verlierer der Krise. Es wäre jedoch ein Trugschluss zu glauben, dass die entstandene Zeit zu Hause mit Kind nur ein Segen ist. Es ist nicht Freizeit! Es gibt kein soziales Netz, das die Betreuung gelegentlich übernimmt. Und wenn, dann nur um arbeiten zu können. Ergo, auch kaum Zeit für einen selbst. Kein Austausch unter Kindern. Nur Kind und Erwachsener. Im Konkreten noch intensiver für alleinstehende Erwachsene mit Kind. Über Wochen. Ach, lasst uns realistisch sein. Wir reden von Monaten.
Nein, mein 2,5-Jähriger darf nicht ausnahmsweise vorm Fernseher sitzen. Er langweilt sich, ist unrund, da ihm viel fehlt. Viele Alltagssituationen zum Beispiel an denen er lernen kann. Physisch, psychisch und sozial. Er ist ein Stadtkind. Er ist an ein großes soziales Netz und eine Fülle an Kontakten gewöhnt.
Wie viele Klopapierautos, Ostereier, Legohäuser, Plastilinspeisen, Lesestunden, Spaziergänge, usw. kann ein Elternteil kreieren, damit Fehlendes ersetzt wird?
Gut, im besten Fall sind es zwei Erwachsene, die sich trotz des Drucks (Arbeitslage, Geldsorgen, etc.) und der andauernden räumlichen Nähe, dieser Aufgabe stellen.
Im allerbesten Fall gibt es Geschwisterkinder, die sich so gut verstehen, dass sie nicht durch ständige Auseinandersetzungen die Spannung erhöhen.
Falls die Beziehungen nicht perfekt laufen: Pech, jetzt ist ein guter Moment Schwächen zu erkennen und daran zu arbeiten. Klingt einfach.
Es ist nicht einfach. In den turbulenten Zeiten, die wir sonst Alltag nennen nicht und jetzt noch umso weniger. Kids, ihr seid der Hammer. Mums und Dads,
cool bleiben (die Maßnahmen sind wichtig) und langsam kindgerechte Erklärungen überlegen, warum jeder eine Maske trägt!