Oper, Beatboxing, tatarischer Volkslieder, Dancepop: Die multibegabte Musikerin Aygyul betätigt sich als Musikethnographin und mixt klassische mit zeitgenössischer Musik. Von Sonja Eismann
Dieses Internet, diese Globalisierung. Riesige Konzerne machen sich die Taschen voll, graben unsere Daten ab, tun nichts gegen politische Manipulation und Hasskommentare; reiche Länder verriegeln ihre Grenzen, während deren Bürger:innen mit protokolonialistischem Lifestyle selbst überall hinein dürfen. Stimmt alles genau so, aber trotzdem bringt all das in kaum fassbaren Ambivalenzen auch unfassbar Beglückendes mit sich. Zum Beispiel einen Lebensweg wie den der Musikerin Aygyul, der ohne beides kaum vorstellbar wäre. Geboren und aufgewachsen in Tatarstan, einer autonomen Republik im Osten (des europäischen Teils) Russlands, in der dortigen Hauptstadt Kazan im Alter von acht bis 17 Jahren zur Opernsängerin ausgebildet, entscheidet sich Aygyul als junge Erwachsene, dass das noch nicht alles war. Mit zwanzig zieht sie, ganz alleine und ohne Deutsch oder Englisch zu sprechen, von Kazan nach Wien, wo sie mittlerweile seit fünf Jahren lebt. Weil sie privat ohnehin nie Opern, sondern Rock und Hiphop gehört und immer schon davon geträumt hat, klassische mit zeitgenössischer Musik zu verbinden, bringt sie sich das Produzieren elektronischer Musik selbst bei – mithilfe von Youtube-Tutorials. Englisch lernt sie mit Netflix. Und als ob das noch nicht genug wäre, schafft sich die Wahl-Floridsdorferin auch noch Beatboxing und das Filmen von Videos drauf, alles natürlich wieder strictly DIY. Dabei beschränkt sich bei Aygyul der künstlerische Prozess aber nicht nur auf ihre eigene Person, sondern ist ein kollaborativer Vorgang. Mit ihrer Mitstreiterin und Mitbewohnerin Pati Avish, die als Street-Art-Künstlerin und als Poetin aktiv ist, schreibt und konzipiert sie die Songs und Videos gemeinsam – und setzt sich für die Dinge ein, die beiden wichtig sind: Feminismus, Veganismus und einen so fried- wie liebevollen Umgang mit der Welt und all ihren Bewohner:innen.
Neben dem Engagement für ernste und gewichtige Themen zeigt Aygyul auf ihrem Youtube-Kanal aber gerne auch ihre spielerische, humoristische Ader: Während des Corona-Lockdowns produzierte die Multibegabte ein aufmunterndes Musikvideo mit dem Titel „Musicican on Isolation“, in dem sie mithilfe von Playtronica-MIDI-Controllern Klopapierrollen in Soundquellen verwandelte. Aygyul haut auf die damals so heiß begehrten Röllchen, dancey Clubsounds und slicke Autotunes-Vocals ertönen, und kleine Videobildchen einer frech schreienden Cardi B poppen auf!
Die aktuelle Single von Aygyul ist ebenfalls während der Zeit der Ausgangsbeschränkungen in ihrem Heimstudio in Wien entstanden. Die Musikerin war an über hundert Jahre alte Aufnahmen tatarischer Volkslieder gelangt, die, auf Metallplatten gepresst, im Archiv eines lokalen Museums gelagert hatten, bis sie aufwendig digitalisiert wurden. In „It’s More“ verbindet Aygyul nicht nur im Sinne einer Musikethnographin zwei unterschiedliche Sounds und Epochen, indem sie Snippets aus dem Originalmaterial in ihre zeitgenössische Dancepop-Komposition einbaut, sie benutzt auch zwei Sprachen: Englisch und Tatarisch. Die sanfte Forderung „Oçıp kitmä“, was auf Deutsch so viel wie „Flieg nicht davon“ bedeutet, zieht sich als sehnsuchtsvolle Widmung an eine geliebte Person durch den gesamten Track. Die Verbindung von opernhaften mit aktuell clubbigen sowie alten Folk-Elementen ist dabei eine Mischung, die beispielhaft dafür steht, wohin sich interessante Musik von heute entwickeln sollte: nach vorne, nach hinten, unten, oben und in alle Richtungen. Soll heißen: Pop jetzt und morgen, wenn man ihn dann überhaupt noch so nennen möchte, inspiriert sich nicht nur aus der Zukunft und der Vergangenheit, sondern erschließt sich unentdeckte bzw. übersehene Quellen aus allen Epochen und Regionen der Welt. Und hat keine Berührungsangst mit der so genannten Hochkultur. Ganz geht das Konzept bei Aygyul noch nicht auf, weil sie slicke Elektronikpopsounds privilegiert, die das darunter liegende faszinierende Konzept fast gänzlich verdecken. Aber wenn sie so engagiert und talentiert weitermacht, passiert hoffentlich wirklich bald das, was ihre Mutter ihr schon als Kind prophezeite: Sie steht auf der Bühne der Wiener Staatsoper. Und zwar, wie von ihr selbst erträumt, mit einem politisch engagierten Kollektiv aus allen Teilen der Welt, das ohne Berührungsängste alle künstlichen Grenzen sprengt.