Kommentar: Eine nächtliche Zugfahrt wird zum antifeministischen Albtraum – bei Tageslicht betrachtet, ist die politische Lage kaum besser. Von LEA SUSEMICHEL
„F*tzen, verlogene Schl*mpe … verf*cktes Maul gestopft … tot gef*ckt …“
Bei einer nächtlichen Zugfahrt im Großraumabteil werde ich von einem durch den Wagen dröhnenden Schwall brutaler sexistischer Tiraden geweckt. Im ersten schlaftrunkenen Moment glaube ich, ich höre eine gehackte Lautsprecherdurchsage. Es ist stattdessen eine Gruppe besoffener Typen, die gemeinsam in voller Lautstärke ein Video anschaut. Meine beiden Kinder schlafen einige Meter davon entfernt, viele andere Leute sind wach – doch niemand sagt oder tut etwas, bis ich selbst aufstehe und die Männer auffordere, das Handy auszuschalten.
Meine ungeschützt schlafenden Kinder, die Gedankengespenster, die der „Mind after Midnight“ produziert – tagsüber hätte mich ein ähnlicher Vorfall vielleicht weniger mitgenommen. Aber in den folgenden Stunden zwischen München und Wien schwanke ich zwischen blutigen Rache-Fantasien, in denen ich die Typen aus dem fahrenden Zug prügle, und dem angsterfülltem Ausmalen der antifeministischen Apokalypse, in dem so eine Männermeute bald schon nicht mehr das Video ausschalten könnte, wenn sie dazu aufgefordert werden, sondern mich stattdessen überwältigt, während der Rest der Menschen im Waggon wegschaut oder weiterschläft.
Ich habe gerade erlebt, wie schnell die Brutalität und der Hass von Typen wie Andrew Tate in die analoge Realität einbrechen kann. Wie fragil womöglich all das ist, was Feminist*innen in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben und für einigermaßen gesichert hielten. Wie furchterregend schnell die Normalisierung des frauenverachtenden politischen Backlash vonstattengeht, den wir gerade erleben.
„Was #MeToo a movement or a moment?“, fragt die Autorin Xochitl Gonzalez im „Atlantic”. In ihrem Kommentar über „Diddy’s Defenders“ erinnert sie daran, was Sean „Diddy“ Combs vorgeworfen wird, der in den USA gerade vor Gericht steht: rohe, sexualisierte Gewalt, von deren expliziter Beschreibung ich im Zug geweckt wurde. Es gibt zig Vergewaltigungsvorwürfe gegen den US-Rapper, Zeugenaussagen für die Todesdrohungen, die er ausgesprochen haben soll, Fotos seiner Waffen. Verstörende Videobeweise wurden im Prozess vorgespielt, die zeigen, wie er seine Ex-Freundin Cassie Ventura durch einen Hotelflur zerrt, auf sie einprügelt und eintritt, als sie bereits am Boden liegt. Dennoch wird er von vielen verteidigt, nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Gewaltexzesse und seiner aggressiven Hypermaskulinität, glaubt Gonzalez. Ihre These ist bestürzend plausibel, schließlich wird auch die Gewaltverherrlichung zahlreicher maskulinistischer Influencer auf Social Media von hunderttausenden männlichen Jugendlichen gefeiert. Junge Männer, die im Zug Gewaltpornos schauen, vielleicht auch Musks Hitlergruß edgy und cool finden und in ihrer Generation mit rechtskonservativen bis rechtsextremen Ansichten zur Mehrheit zu werden drohen.
Donald Trump, selbst wegen sexueller Gewalt verurteilt, denkt laut über eine Begnadigung Diddys nach – aus demselben Grund, aus dem er die „Proud Boys“ nach dem Sturm aufs Kapitol wieder freigelassen hat: Weil es viele seiner Wähler glücklich macht.
Dass Gérard Depardieu trotz Schuldspruchs von seinen Anhänger:innen als vermeintlich eigentliches Opfer bedauert oder Kevin Spacey in Cannes für sein Lebenswerk geehrt wird, ist also genau wie die grausigen Kommentare zum Diddy-Prozess bloß der logische popkulturelle Ausdruck einer globalen politischen Entwicklung. Denn die neuen Faschisten sind die alten Antifeministen. Wenn der argentinische Präsident Javier Milei in Davos den „Kampf gegen Wokeness“ ausruft, bedient er damit eine global erfolgreiche ideologische Agenda, die für erschreckend viele anschlussfähig ist. Sie bleibt nicht folgenlos, sondern übersetzt sich allerorten unmittelbar in einen Anstieg von männlicher rechter Gewalt gegen Minderheiten. Aggressiver Antifeminismus bildet dabei nicht zufällig den ideologischen Kern dieses neuen Autoritarismus. Mit der Behauptung, dass Wokeness längst in Tyrannei umgeschlagen sei und ihr deshalb entschlossen entgegengetreten werden müsse, lässt sich schließlich auch im linken Lager Wahlkampf machen. Doch wer Rechtspopulismus nachhaltig bekämpfen will, muss im Gegenteil die uralte Misogynie ausmerzen, die eines seiner zentralen Fundamente bildet. Und alles daransetzen, dass #MeToo nicht nur ein Moment gewesen sein wird. Dazu gehört unbedingt auch im Zug – und überall sonst – aufzustehen, wenn Sexisten laut werden.