Janina Lütt (46) ist alleinerziehende Mutter, seit zwanzig Jahren depressiv und genau so lange armutsbetroffen. Auf Twitter und in einer Kolumne im „Freitag“ schreibt sie darüber, wie es ist, unter der Armutsgrenze zu leben. Anna Lindemann hat mir ihr über Inflation, Stigmatisierung und ihren Aktivismus gesprochen.
an.schläge: Sie gehören zu den knapp 17,3 Millionen Menschen in Deutschland, die unter der Armutsgrenze leben. Wie sind Sie in diese Situation gerutscht?
Janina Lütt: Ich bin gelernte Erzieherin und habe meinen Job eigentlich sehr gerne gemacht. Ich wurde aber schwer gemobbt und bin sehr krank geworden, körperlich und psychisch. Die Depressionen bin ich bis heute nicht los und werde wohl auch nie wieder gesund sein.
Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen sprechen Sie auch öffentlich über Ihre Armut.
Ja, das war ein riesiger Schritt für mich. Ich habe ganz schön gezittert beim ersten Mal, hatte Angst, und war gleichzeitig unheimlich erleichtert. Es fühlte sich an wie ein Outing.
Wie schwierig ist es für Sie, jeden Monat finanziell über die Runden zu kommen?
Ich beziehe unbefristete Rente bei voller Erwerbsminderung, die wird aufgestockt auf den normalen Bürgergeldsatz, also 502 Euro. Für mein Kind bekomme ich 348 Euro. Ich habe außerdem einen Überziehungsrahmen, Gott sei Dank. Meine Bank erlaubt mir, bis zu 200 Euro ins Minus zu gehen und das hat mir im wahrsten Sinne des Wortes schon oft mein Leben gerettet. Ohne dem wäre ich vielleicht auf der Straße gelandet, wenn zum Beispiel unvorhersehbare Rechnungen kommen oder ich Geld für Medikamente ausgeben muss. Ansonsten geht das meiste Geld für Lebensmittel drauf, gesunde Ernährung hat bei mir die höchste Priorität.
Wie haben die Energiekrise und die Teuerung Ihre Situation verändert?
Die höheren Gaspreise hat zum Glück das Sozialamt übernommen, insgesamt sind es trotzdem rund fünfzig Euro mehr für Energie, die mir jeden Monat fehlen. Am krassesten haut aber die Inflation bei den Lebensmitteln rein. Da mache ich dann zugunsten meines Kindes Abstriche und esse manchmal schlechter als sie. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Quark gekauft habe. Immerhin esse ich lieber Frischkäse als Butter, diese Preiskrise ist an mir vorbeigegangen. Ansonsten kaufe ich, was im Angebot ist, und mehr Tiefkühlware als vorher. Ich bin jetzt auf jeden Fall ein größeres Umweltschwein, weil die billigen Beeren nun mal aus Marokko kommen. Aber ich will eben was Frisches im Haus haben.
Sie sind alleinerziehende Mutter. Was bedeutet die Armut für Ihr Kind?
Ich versuche, mir gegenüber meiner Tochter möglichst wenig anmerken zu lassen. Ich habe ihr erklärt, dass wir arm sind, aber gesagt, dass wir das Wichtigste haben: ein Dach überm Kopf, Essen und uns beide. Natürlich bekommt sie aber mit, dass ich seit gut einem Jahr öfter auf Demos fahre. Da fragt sie dann, warum ich jetzt schon wieder gegen Nazis protestieren muss.
Sie schreiben sowohl auf Twitter als auch in einer Kolumne im „Freitag“ über Ihren Alltag als Armutsbetroffene. Was hat sich dadurch verändert?
Ich habe mich bis letztes Jahr geschämt, arm zu sein. Seit ich erwachsen bin, habe ich versucht, meine Armut zu verstecken. Ich habe sehr auf meine Kleidung geachtet, damit nicht auffällt, dass sie gebraucht ist, und ich habe mir Ausreden ausgedacht, wenn Leute auf einen Kaffee gehen wollten. Jetzt sage ich: „Nein, ich bin armutsbetroffen und ich kann das nicht bezahlen.“ Es ist eine richtige Befreiung. Und ich fühle mich weniger alleine. Arme Leute führen immer ihren eigenen Überlebenskampf, da ist man oft gefangen in seiner kleinen Blase und kann sich nicht vorstellen, dass es anderen auch so geht. Jetzt ist Armut sichtbarer, wir sind vernetzter.
Warum ist das wichtig?
Es gibt einen politischen Willen, arme Leute arm zu halten. Unsere ganze Wirtschaft funktioniert so. Im Neoliberalismus braucht es Menschen, die im prekären Niedriglohnsektor arbeiten, es braucht Verlierer*innen. Wir sind die, auf die man zeigt und sagt: Guck mal, so willst du nicht enden, aber das passiert, wenn du nicht arbeitest. Dieser Haltung können wir zusammen etwas entgegensetzen und für uns einstehen. Dass das wichtig ist, sehe ich schon daran, dass mir oft gesagt wird, ich würde jammern. Dann denke ich: Junge, definiere jammern! Das sind einfach Fakten, das ist meine Lebensrealität, die ich zeige. Das klingt nach Stigmatisierung. Ja. Wer arm ist, wird stigmatisiert. Und das macht ganz viel mit der Psyche und dem Selbstbewusstsein. Man fühlt sich bestraft, ausgegrenzt, nicht zugehörig. Und einem wird ständig das Gefühl vermittelt, selbst dran Schuld zu haben. Überhaupt: Woran Bürgergeld-Empfänger*innen alles schuld sein sollen. Sogar daran, dass die Wirtschaft nicht wächst. Den Schuh will ich mir nicht anziehen und das sollte ohnehin keiner glauben. Es reicht schon, dass mir oft unterstellt wird, dass ich schlicht nicht arbeiten will.
Das alte Klischee, arbeitslose Menschen wären schlicht zu faul, um zu arbeiten.
Das ist eine absolute Beleidigung. Ich habe meinen Job als Erzieherin sehr gerne gemacht, aber ich bin dafür einfach zu krank. Leute, die nicht arbeiten, machen das aus Gründen. Ich glaube, ich kenne nur einen einzigen Menschen, der sagt, er könne ohne Arbeit leben. Menschen brauchen andere Menschen und sie brauchen etwas zu tun. Ohne sinnvolle Tätigkeit wird’s schwer im Leben.
Was muss politisch passieren?
Den Regelsatz hochsetzen, sodass am Ende des Monats noch genügend für Essen übrig ist. Ich brauche 200 Euro mehr im Monat. Und das 9-Euro-Ticket wieder einführen. Politiker*innen sollten sich mehr mit dem Thema Armut auseinandersetzen. Es ist peinlich, wenn sie in Talkshows sitzen und sich mit den tatsächlichen Sozialleistungen nicht auskennen.
Ansonsten würde ich mir von der Politik wünschen, dass sie ein anderes Menschenbild propagiert. Dazu gehört auch, zu verstehen, dass wir Armutsbetroffenen keine homogene Gruppe sind. Und dass man uns nicht gegeneinander ausspielen sollte. Ich will nicht Geflüchteten die Schuld für meine Armut geben.
All das wird schon seit langer Zeit gefordert, umgesetzt wurde wenig. Auch mit der Umstellung in Deutschland von Harz IV aufs Bürgergeld Anfang des Jahres ist der Regelsatz für Arbeitslose nicht erheblich gestiegen. Denken Sie, dass Sie für den Rest Ihres Lebens armutsbetroffen sein werden?
Das glaube ich nicht nur, das ist eine Tatsache. Ich habe zu wenig gearbeitet und ich kann jetzt nicht mehr arbeiten. Bis ich 65 bin, bekomme ich die Erwerbsrente, dann falle ich in die Altersarmut. Ich bin arm und ich werde arm bleiben.
Was ist Ihre größte Angst, wenn Sie in die Zukunft blicken?
Ich bin eine Überlebenskünstlerin und ich habe ein soziales Netz, das sehr gut funktioniert. Vielen Armutsbetroffenen geht es anders. Die haben keine Menschen in ihrem Umfeld, die sie bei der Kinderbetreuung unterstützen oder ihnen das Gefühl von Teilhabe vermitteln. Meine größte Angst ist, dass meine Gesundheit nicht mehr mitmacht, dass ich zu depressiv werde und mein soziales Netz zusammenbricht.
Anna Lindemann ist Sozialwissenschaftlerin und freie Journalistin.