Unzählige Urlaubsfotos überfluteten in den vergangenen Monaten die sozialen Medien, wie jedes Jahr im Sommer. Mittlerweile sind die warmen Tage vorbei, die erste Lebkuchenware ist in den Supermärkten angekommen. In Alltagsgesprächen wird noch an den Sommerurlaub erinnert, die Frage „Wo warst du dieses Jahr?“ stellen viele ganz selbstverständlich.
„Materielle Deprivation“ heißt einer von drei zentralen Indikatoren zur Bestimmung von Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung. Er umfasst das Fehlen finanzieller Mittel, um sich wesentliche Güter oder Lebensbereiche leisten zu können – dazu zählt auch, zumindest eine Woche Urlaub im Jahr machen zu können. Laut einer aktuellen Auswertung der EU („Gemeinschaftsstatistiken zu Einkommen und Lebensbedingungen“), sind rund 17 Prozent der österreichischen Bevölkerung armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Das sind 1.519.000 Menschen. Zu den besonders gefährdeten Personengruppen gehören Kinder, Alleinerziehende (über achtzig Prozent davon sind Frauen), Frauen im Alter, Langzeitarbeitslose, Personen in einem schlecht bezahlten, unsicheren Arbeitsverhältnis und Menschen ohne Staatsbürger*innenschaft.
Die Daten stammen aus dem Vorjahr, die Inflation verschärft neben den Langzeitfolgen der Pandemie die Situation angesichts explodierender Energiepreise, bei Nahrungsmitteln und in der Gastronomie für viele Haushalte erheblich. Im August stiegen die Verbraucherpreise um knapp zehn Prozent verglichen zum Vorjahr. Wie sich das auf das Reiseverhalten der Österreicher*innen auswirkt, ist statistisch noch nicht erfasst, es ist jedoch davon auszugehen, dass zukünftig mehr Menschen zuhause bleiben müssen.
„Zuhause ist es eh am schönsten“, könnten Zyniker*innen einwenden und auf den „Urlaub auf Balkonien“ verweisen. Aber abgesehen davon, dass armutsbetroffene Menschen weit seltener über Balkone oder gar eigene Gärten verfügen, fehlen ihnen zudem auch die Mittel für kostenintensive Freizeitunternehmungen wie Ausflüge und Schwimmbadbesuche. Der ungewollte Verzicht auf Urlaub hat deshalb viele negative Folgen. Psycholog*innen und Mediziner*innen verweisen darauf, dass der Stresspegel im Urlaub signifikant sinkt und Wohlbefinden und Gesundheit profitieren. Reisen dient überdies nicht nur zur Erholung, sondern auch der Horizonterweiterung. Wer selten verreist, gilt als engstirnig und büßt soziales Ansehen ein.
Diese Erfahrung ist oft besonders schmerzlich. Sich den Urlaubsstandards der anderen zu entziehen, kann auf Plattformen wie Instagram, bei denen es generell viel um sozialen Vergleich geht, zur Herausforderung werden. Das ungefragte Senden von Urlaubsfotos von Freund*innen und Familie, das kollektive Erinnern an den Urlaub als Einstieg in das neue Schuljahr – all das kann das Selbstwertgefühl schädigen.
Um die Situation von armuts- und ausgrenzungsgefährdeten Menschen zu ändern, müssen die vielen strukturellen Ungerechtigkeiten sichtbar gemacht werden. Um die soziale Teilhabe aller Menschen zu ermöglichen, braucht es eine echte Umverteilung und nicht bloß kosmetische Maßnahmen wie Einmalzahlungen. Denn Armut wird nicht bloß toleriert, sie wird gemacht. Doch auch abseits der großen strukturellen Veränderungen, die politisch immer noch ein Minderheitenprogramm sind, können kleine Schritte mehr Teilhabe ermöglichen. Das 9-Euro-Ticket, mit dem der deutschlandweite Nah- und Regionalverkehr im Sommer preisgünstig genutzt werden konnte, hat gezeigt, wie einfach mehr Mobilität auch für Menschen mit wenig Einkommen Realität wird. Das Ticket sicherte keinen Urlaub, aber ermöglichte zumindest einen Wochenendausflug. Ein Anfang. •