Der Netflix-Film „Sommer der Krüppelbewegung“ erzählt vom beeindruckenden Kampf von Menschen mit Be_hinderungen für ihre Rechte. Von Katharina Payk
Ein Camp mit lauter Be_hinderten! Manche Teilnehmer_innen waren anfangs unsicher, wie das funktionieren soll. Doch es wurde der Sommer, in dem eine Revolution startete, denn die Gemeinschaft des „crip camp“ in Gened (New York) ermächtigte be_hinderte Menschen zum Kampf für ihre Rechte. Nicole Newnham und der damalige Camp-Teilnehmer James LeBrecht haben die Originalaufnahmen dieses ermutigenden Hippie-Camps aus dem Jahr 1971 wie auch anderer wichtiger Ereignisse der US-amerikanischen Disability-rights-Bewegung mit rückblickenden Interviews zu einem mitreißenden Film verarbeitet.
Camp 1971. In einer Zeit, in der Menschen mit Be_hinderungen noch mehr als heute gegen Barrieren, Diskriminierung und Gewalt kämpfen mussten, erschien das Camp in Gened, das fast drei Jahrzehnte (1951 bis 1977) lang jeden Sommer stattfand, als himmlischer Ort ohne Barrieren und ohne das Gefühl, anders oder krank zu sein. Ohne die Außenwelt, ohne Eltern.
Die Filmaufnahmen vom Camp 1971 zeigen Menschen aller Hautfarben mit verschiedenen kognitiven, körperlichen und Lernbe_hinderungen, die miteinander tanzen und Musik machen – frei und ausgelassen wie in Woodstock. Sie erlebten eine zuvor nicht gekannte Community, in der sie sich über ihre Alltagserfahrungen austauschen konnten: über die Überfürsorge ihrer Eltern, den Wunsch nach Teilhabe, Selbstbestimmung und Freiheit.
Regisseur James „Jimmy“ LeBrecht war 15, als er in jenem Jahr das Camp besuchte. Außerhalb habe er sich nicht als cooler Junge gefühlt, aber in Gened schon, wie er stolz erzählt. Dort hatte er seine erste Freundin, und auch für andere bedeutete das Camp erste und unverhoffte sexuelle Erfahrungen. Auch die später berühmte Disability-rights-Aktivistin Judy Heumann besuchte viele Jahre hintereinander Gened, so auch im Sommer 1971. Im Film erzählt sie, wie sie als Kind erkannte, dass Leute sie „nicht als Judy sahen, sondern als eine Kranke“. Nicht nur im Film, sondern auch in der Geschichte der Behindertenrechtsbewegung nimmt sie eine Schlüsselrolle ein: Sie wird ein führender Kopf der Krüppelbewegung, organisiert wirksame fulminante Protestaktionen und wird schließlich sowohl in Clintons Regierung als auch von Obama in Amt und Würden gesetzt.
Rolli-Blockaden. Kein bisschen leise waren die Aktionen von „Disabled in Action“, einer Gruppe, die mit politischem Protest den Schutz von Menschen mit Be_hinderungen in den Gesetzen der US-Bürgerrechtsbewegung verankern wollten. Heumann und ihre Mitstreiter_innen, darunter einige ehemalige Gened-Camper_innen, blockierten mit ihren Rollis die Straßen New Yorks. Die Szenen beeindrucken: Menschen mit teils starken Be_hinderungen besetzen 1977 mit den „504-Sitzstreiks“ in mehreren Städten Regierungsgebäude. Filmaufnahmen von damals dokumentieren die widrigen Umstände, aber auch die Vehemenz und Entschlossenheit der Protestierenden. Unnachgiebig fordern sie die Unterzeichnung der Sektion 504 des Rehabilitation Act von 1973, die Diskriminierung in durch öffentliche Gelder geförderten Einrichtungen untersagt. Eine der wichtigsten und erfolgreichsten Aktionen dabei war die 25-tägige Besetzung des Gesundheitsministeriums in San Francisco, geleitet von drei Frauen, darunter Judy Heumann – die bis heute längste Sitzblockade eines US-Regierungsgebäudes.
Der Film erinnert uns eindringlich daran, wie lange und hart be_hinderte Menschen für ihre Rechte kämpfen mussten. Er zeigt, dass viele der Forderungen, Barrieren abzubauen und Diskriminierung zu beenden, noch immer nicht umgesetzt wurden. Er erinnert uns auch daran, wie wichtig es ist, unter marginalisierten Menschen Bündnisse einzugehen, sich zu solidarisieren. Der Film bringt eine kaum beachtete Bürgerrechtsbewegung (wieder) auf den Schirm und entlarvt einmal mehr den Mythos der „68er“-Revolution. Denn Be_hinderte mussten genau wie LGBTI, Schwarze und Frauen ihre Rechte überwiegend allein und mit geringer Unterstützung erkämpfen. Doch trotz dieser bitteren Einsicht lässt der Film Stärke und Mut siegen und feiert auf berührende Weise die Geschichte(n) und die Errungenschaften be_hinderter Menschen.