„Ich habe mich fast nicht getraut, den Brief zu öffnen“, erzählt Andrea. Zwei Tage lang sei er ungeöffnet auf dem Küchentisch gelegen. Ihre monatliche Gas- und Stromrechnung hat sich 2023 nahezu verdoppelt. Doch beim Heizen einzusparen, fällt der Mindestpensionistin schwer. Ihre zugigen Altbaufenster hat sie bereits mit Decken ausgestopft, die hohen Räume sind schwer warm zu halten. Zuhause trägt sie ohnehin meist dicke Pullover. Wenn sie das Thermostat noch weiter runterdreht, droht ein Schimmelbefall. Schon seit zwei Jahren sucht Andrea nach einer neuen Mietwohnung, doch der Wohnungsmarkt gibt nicht viel her für Menschen in ihrem Einkommenssegment. Neue Mietverträge sind außerdem meist befristet, ihren unbefristeten Vertrag kann sie nicht leichtfertig aufgeben. „Irgendwann hätte ich gern eine Badewanne und einen Balkon“, sagt sie.
Schon im April könnte auch Andreas Miete kräftig steigen. Dann werden in Österreich die Richtwerte aufgrund der Inflation um 8,6 Prozent angehoben, rund 300.000 Haushalte sind betroffen. Enormen Zulauf verzeichnen in diesem Winter auch die Wärmestuben der Caritas, wo Menschen sich aufwärmen können und eine kostenlose Mahlzeit bekommen. Da die Nachfrage steigt, hat die kirchliche Hilfsorganisation erstmals in Wien vier Wärmestuben nur für Frauen eingerichtet. Gerade sie sind oft von versteckter Wohnungslosigkeit betroffen und kommen vorübergehend bei Bekannten oder Angehörigen unter. Die Lage könnte sich bald weiter verschärfen.
„Zinshäuser stehen in Europa seit Jahrhunderten für Stabilität und sicheres Wachstum von privaten Vermögen“, ist indes auf der Website eines Investment-Unternehmens zu lesen. Wie groß das Wachstum von Vermögen tatsächlich ist, zeigt Oxfam in seinem Bericht zur sozialen Ungleichheit auf. „Die Reichen werden immer reicher“, so die Essenz von „Survival of the Richest“. Denn während es vielen Menschen flau im Magen wird, wenn sie an der Supermarktkassa Brot und Milch aufs Band legen, hat die Coronakrise „gigantische Vermögenszuwächse für Milliardär*innen“ gebracht. Es sind Zahlen, die nur schwer zu begreifen sind: Seit 2020 gingen 26 Billionen US-Dollar (63 Prozent) der Vermögenszuwächse an das reichste Prozent der Weltbevölkerung, während 99 Prozent sich den Rest teilen. Besonders drastisch fällt das Ungleichgewicht in Deutschland aus. Dort hat sich das reichste Prozent ganze 81 Prozent in die Taschen gesteckt.
Unter den Armutsbetroffenen indes sind Frauen überproportional vertreten: Sie machen fast sechzig Prozent der hungernden Weltbevölkerung aus, Altersarmut ist auch in reichen Industriestaaten weiblich. Insgesamt erleben wir die größte Zunahme der weltweiten Ungleichheit seit dem Zweiten Weltkrieg, berichtet Oxfam mit Verweis auf die Weltbank.
Zumindest auf die Krisenfolgen haben Regierungen vielerorts durchaus reagiert. In Österreich präsentierte Sozialminister Rauch erst kürzlich gemeinsam mit Hilfsorganisationen einen Wohnschirm, der vor Delogierungen schützen soll und in Notsituationen auch bei zu hohen Energiekosten einspringt (www.wohnschirm.at).
Maßnahmen, die angesichts der angespannten Lage geradezu unerlässlich erscheinen. Ebenso unerlässlich scheint es jedoch, auf lange Sicht nur noch in großen Dimensionen zu denken. Sozialpolitik darf nicht länger als Feuerwehr eines gewaltvoll ungerechten Systems dienen, das schon früh in Gewinner*innen und Verliererinnen unterteilt. Während Linke und Feministinnen mit ihrer Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen zumindest im Mainstream angekommen sind, gilt es, die obszöne Ungleichheit auch von der anderen Seite anzupacken. Absurd hohe Vermögen und Einkommen dürfen erst gar nicht entstehen. Dass es Milliardärinnen schlicht nicht geben sollte, dafür muss nicht erst Elon Musk den Beweis antreten. Die Hebel, die es dazu braucht, sind freilich vielfältig, die Kämpfe werden zähe sein. Doch mit dem Märchen vom Aufstieg durch Leistung lassen sich gerade junge Menschen nicht länger ködern. Und für den Kampf um radikale Umverteilung haben Feministinnen längst die Pläne in der Tasche. •