Obwohl für Frauen die eigenen vier Wände am gefährlichsten sind, fürchten sie meist Parks oder Unterführungen. SONJA GAEDICKE über die patriarchalen Strukturen hinter der „urbanen Angst“.
Öffentliche Räume wurden mit den Verstädterungstendenzen im 18. Jahrhundert als Räume konstruiert, die für Frauen nicht sicher sind. Seit der sogenannten Kölner Silvesternacht 2015/16, die international für Schlagzeilen sorgte, hat sich diese Debatte intensiviert. Häufig verlaufen die Diskussionen dabei nach einem ganz bestimmten Schema.
Die Angst weißer, weiblich gelesener Personen1 der Dominanzgesellschaft rückt in den Vordergrund, als Gefahrenquelle werden migrantisierte Männer identifiziert. Und auch der Ruf nach politischen Lösungen ist stets derselbe: verstärkte Polizeipräsenz und verschärfte Asylgesetze sowie städtebauliche Maßnahmen wie die Installation von mehr Straßenlaternen und Überwachungskameras. Ein Narrativ, das rechtspopulistischen Parteien wie FPÖ und AfD in die Karten spielt, meist von den sogenannten bürgerlichen Parteien mitgetragen wird und strukturelle Ursachen sexualisierter Gewalt und anderer Delikte außen vor lässt.
Um das Phänomen des urbanen Angstraums und Konzepte von Sicherheit in ihrer Vielschichtigkeit verstehen und diskutieren zu können, ohne dabei in vereinfachende, rechtspopulistische Narrative zu verfallen, braucht es eine (queer-)feministische Perspektive.
Und das beginnt schon bei unserer Vorstellung von Raum. Der Begriff geht auf die Kultivierung von Land zurück, also auf menschliche Handlungen, die einen Raum überhaupt erst entstehen lassen. Menschen können also durch ihre Handlungen Räume herstellen. Das gilt jedoch nicht für alle in demselben Ausmaß. Auch etwas vermeintlich Neutrales wie ein Raum ist sozial strukturiert, das heißt, je nach Geschlecht, Alter, Race, Klasse, körperlichen und geistigen Fähigkeiten verfügen wir über mehr oder weniger Ressourcen und Macht, um Räume entstehen zu lassen.
IN DER EIGENEN WOHNUNG. Aktuellen Studien zufolge ist die Kriminalitätsfurcht von Personen, die sich als weiblich identifizieren, etwas höher als bei Personen, die sich als männlich identifizieren, obwohl letztere eher von Kriminalität betroffen sind. Frauen sind aber fast dreimal so häufig von sexualisierter Gewalt betroffen als Männer – und auch ihre Angst davor ist größer. Und während Männer eher im öffentlichen Raum von körperlicher und sexualisierter Gewalt betroffen sind, ist es für Frauen bei beiden Gewaltformen zu siebzig Prozent die eigene Wohnung. Bei den Tätern handelt es sich häufig um (Ex-)Partner. Obwohl also die eigenen vier Wände und nahestehende Personen statistisch gesehen am gefährlichsten sind, verlagert sich die Angst von Frauen stärker auf den öffentlichen Raum und auf sich dort aufhaltende fremde Männer. Dieses Phänomen bezeichnet die Geografin Hille Koskela als Angstparadoxon. Bei genauerem Hinsehen ist diese Verlagerung der Angst auf den öffentlichen Raum und auf fremde Männer gar nicht so paradox, denn Angst entsteht nicht nur als Reaktion auf direkte Gewalterfahrungen. Angst passiert uns nicht einfach, sie wird sozial konstruiert. Elterliche Warnungen, Gerüchte, mediale Berichterstattung, Hinweise zur Verbrechensvorbeugung – all diese Dinge beeinflussen, was wir als gefährlich einschätzen und wovor wir lernen, Angst zu haben. Und es bedarf nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass elterliche Warnungen gegenüber Mädchen anders ausfallen als gegenüber Buben.
STRANGER DANGER. Da insbesondere weiblich gelesene Personen im öffentlichen Raum regelmäßig sexuelle Belästigungen und verschiedene Formen sexualisierter Gewalt erfahren – von Cat Calling bis Grapschen –, verstärkt sich die Angst vor Vergewaltigung. Die Projektion der Angst auf fremde Männer wird in der Stadtforschung unter dem Begriff Stranger Danger zusammengefasst und durch Medienberichte reproduziert. Häufig wird eher über Übergriffe, die von Fremden ausgehen, berichtet, als über intime Gewalt und Femizide in Partnerinnenschaften. Somit werden patriarchale Institutionen wie die heterosexuelle Kernfamilie als sicher konstruiert, obwohl sie es oftmals nicht sind.
Frauen lernen also eher, welche Räume es wann zu meiden gilt, anstatt wo und wann sie auf gefährliche Personen treffen könnten. Da die Anwesenheit von Männern in der eigenen Umgebung von Frauen oftmals nicht kontrolliert werden kann, sie außerdem nicht in einem Zustand ständiger Angst leben und Männer nicht per se als Täter abgestempelt werden können, verlagern Frauen ihre Angst auf bestimmte Räume. Parks, Straßen, Unterführungen oder Parkhäuser werden so zu typischen Angsträumen.
URBANE ANGST. Die Folgen dieser urbanen Angst sind vielschichtig und einschneidend. So haben Forscher*innen herausgefunden, dass manche Frauen permanent Sicherheitsstrategien überlegen oder anwenden, wenn sie beispielsweise nachts alleine unterwegs sind – vom Schlüsselbund in der Hand über die Nutzung von Begleitapps wie WayGuard bis hin zum Inkaufnehmen von Umwegen. Auch konstantes Unwohlsein, das zu Stress und zu gesundheitlichen Folgen führen kann, geht oftmals mit urbaner Angst einher. Sogar ökonomische Folgen kann die urbane Angst haben, denn wenn der Heimweg zu Fuß zu gefährlich erscheint, steige ich vielleicht doch eher in ein Taxi. Diese Einschränkungen beschreibt die Geografin Leslie Kern als ein indirektes, aber sehr effektives Programm sozialer Kontrolle, denn die sozial verstärkte Angst hält Frauen davon ab, sich den öffentlichen Raum vollständig anzueignen.
SOZIALE SICHERHEIT STATT INDIVIDUALISIERUNG. Diese und ähnliche Sicherheitsstrategien schieben die Verantwortung für die eigene Unversehrtheit den Frauen zu. Anstatt dass Männer Kurse besuchen, in denen sie lernen, wie sie keine Täter werden und sich mit toxischen und hegemonialen Männlichkeitsbildern auseinandersetzen, gehen Frauen in Selbstverteidigungskurse. Sicherheit wird hier – einer neoliberalen Logik folgend – zu einem individuellen Problem, das individuell gelöst werden soll. Eine weitere individualistische Vorstellung von Sicherheit basiert auf einer Vorstellung von Schutz, die von einer asymmetrischen und meist vergeschlechtlichten Beziehung zwischen den männlichen Beschützenden und den weiblichen Beschützten ausgeht. Der Sozialwissenschaftler Daniel Loick unterscheidet zudem zwischen einem polizeilichen und einem sozialen Verständnis von Sicherheit, die beide in einem Konkurrenzverhältnis zueinanderstehen, weil der Ausbau der Polizei und der Gefängnisse auf Kosten von sozialer Absicherung und Angeboten der Sozialen Arbeit gehen kann. Die Stärkung der Polizei kann demnach mit einer Abnahme von (sozialer) Sicherheit einhergehen. Dies kann dazu führen, dass Personen in Armut leben müssen, womit dann wiederum ein Anstieg an Diebstahl und anderen Delikten einhergehen kann. Im Zusammenhang mit Angstraum-Diskursen sollte danach gefragt werden, wessen Sicherheit von Bedeutung ist, wessen Angst ernst genommen wird und wessen Sicherheit und Angst unsichtbar bleibt.
In Anlehnung an die Soziologin Renate Ruhne ist es sinnvoll, einen Perspektivwechsel von einer Gewaltproblematik hin zu einer Machtproblematik zu vollziehen, statt rassistische und sexistische Angstraum-Diskurse zu reproduzieren. Die zentralen Fragen, die sich daraus ergeben, lauten: Wer gestaltet den öffentlichen Raum? Und wer hat keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten?
Das verbreitete Verständnis von Angsträumen als öffentliche Räume, die besonders gefährlich für Frauen sind, muss aufgebrochen werden, da diese Erzählung die Angst verdeckt, die andere Menschen an öffentlichen Räumen haben können und die Gefahr verschleiert, die im privaten Raum für Frauen liegt.
Sonja Gaedicke (sie/ihr) ist Soziologin und Geschlechterforscherin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Hochschule Köln. Ihre Dissertation erscheint voraussichtlich im Dezember 2024 im transcript Verlag unter dem Titel „Urbane Angsträume — Eine Situationsanalyse zur diskursiven Konstruktion“.