Wie queer sind Kinder- und Jugendbücher? Carla Heher kann von erfreulichen Entwicklungen berichten.
„Heartstopper“, die Coming-of-Age-Graphic-Novel, die die Liebesgeschichte zweier Jungen erzählt, ist ein Bestseller. Dass eine queere Geschichte so erfolgreich ist, dass sie sogar von Netflix verfilmt wird, hätte ich mir 2013 kaum vorstellen können. Damals machte ich mich für die an.schläge auf die mühsame Suche nach progressiven Kinderbüchern mit queerfeministischem Anspruch – und es war gar nicht so einfach, Werke zu finden, die sich kritisch mit Geschlechterrollen und -normen auseinandersetzen, Familienkonstellationen jenseits von Mutter-Vater-Kind thematisieren oder auch einfach nur Vielfalt darstellen. Zehn Jahre später sieht das zum Glück anders aus.
Vulva & Vulvina. Insbesondere bei Aufklärungsbüchern für Kinder und Jugendliche ist ein deutlicher Paradigmenwechsel erkennbar. Wurden Schwangerschaft, Geburt und Familie früher sehr (hetero-)normativ verhandelt, ist Vielfalt in vielen Neuerscheinungen Standard. Das zeigt sich bereits auf den ersten Blick durch Illustrationen, die Menschen mit unterschiedlichen Diversitätsmerkmalen darstellen, etwa was Hauttöne, Körperformen und Geschlechterstereotype betrifft. Doch auch das Thema Fortpflanzung wird abseits von Heterosexualität verhandelt und im Wochenbett kümmern sich nun auch Väter liebevoll um das Neugeborene. Transgeschlechtlichkeit und Nicht-Binarität werden ebenso thematisiert wie andere Aspekte der Sexualerziehung, die mindestens genauso wichtig sind wie Körperfunktionen: Gefühle (und der Umgang damit) sowie Konsens zum Beispiel. Immer häufiger liest man auch die korrekte Bezeichnung der Genitalien, nämlich Vulva für die äußerlich sichtbaren Bereiche und Vagina für den inneren Muskelschlauch. Im intersektionalen Aufklärungsbuch „Samira und die Sache mit den Babys“ greift die Autorin auf den neuen, emanzipatorischen Begriff „Vulvina“ zurück.
Die Macher_innen von „Lina die Entdeckerin“ (Achse), ein Kinderbuch über die Vulva, haben mit der ganzseitigen Abbildung einer Klitoris und der Beschreibung ihrer Funktionen ein Tabu gebrochen und neue Standards gesetzt. Das gilt auch für das sehr empfehlenswerte Aufklärungsbuch „Untenrum. Und wie sagst du?“ (Beltz & Gelberg) für Kinder schon ab vier Jahren. An eine ältere Zielgruppe, nämlich an Heranwachsende ab zwölf Jahren, richten sich „Selma, Küsse, Kuddelmuddel“ und „Yunus, Zocken, Liebeszeugs“ (beide Leykam Verlag), zwei Geschichten über Freund_innenschaft und die Veränderungen, die die Pubertät mit sich bringt.
Bücher, die sich mit Teilaspekten der Pubertät auseinandersetzen, sind eine hilfreiche Ergänzung. Gerade das Thema Menstruation kann auch erstmal ohne Sex und Schwangerwerdenkönnen auskommen, schließlich geht es in erster Linie darum, dass man jeden Monat blutet. Das aktuell inklusivste Buch darüber heißt „Mut zum Blut“ (Zuckersüß Verlag). Es rüstet für einen positiven und selbstbewussten Umgang mit der Menstruation und bestärkt Kinder und Jugendliche, mit ihren Gedanken und Gefühlen rund um die Periode offen umzugehen. Es liefert Infos rund um Hygieneprodukte und hilfreiche Hinweise zu (daten-)sicheren Menstruationsapps.
Auch zum Thema Queerness gibt es explizite und spannende Neuerscheinungen. „Was ist eigentlich dieses LGBTIQ*“ (migo) ist ein Jugendsachbuch zum Thema Queerness. In zehn Kapiteln werden Themen rund um Geschlechteridentitäten und sexuelle Orientierung besprochen und die einschlägigen Begriffe verständlich und anschaulich erklärt. Es erläutert, mit welchen Formen von Diskriminierung queere Menschen hier und anderswo zu kämpfen haben oder wie ein Coming-out ablaufen könnte. Dazwischen gibt es immer wieder Mitmachseiten, die zur Reflexion anregen.
Märchen- und Bilderbücher. Queere und feministische Inhaltein Kinderbüchern beschränken sich erfreulicherweise nicht nur auf Sachbücher. Wer gerne Märchen vorliest, aber auf überkommene Rollenzuschreibungen
verzichten will, hat mittlerweile eine gute Auswahl. Die Idee, Märchen umzuschreiben und dabei etwa die Geschlechter der Hauptfiguren auszutauschen (Der Prinz auf der Erbse, Kein & Aber) oder mal die Prinzessinnen Karriere machen zu lassen (Power to the Princess, Carlsen) wurde bereits aus verschiedenen Perspektiven aufgegriffen. International für besonders viel Aufregung hat eine Publikation aus Ungarn gesorgt. Das von einer lesbischen Initiative herausgegebene Märchenbuch „Meseország mindenkié“ löste eine politische Debatte aus und wurde von der rechtskonservativen Regierung unter Victor Orban zum Anlass genommen, queerfeindliche Gesetzesreformen durchzusetzen. Die deutsche Übersetzung des Buchs, in dem unter anderem schwule Prinzen, eine Romnja Prinzessin und ein trans Reh eine Rolle spielen, wurde unter dem Titel „Märchenland für alle“ (DK Verlag) veröffentlicht.
Wem das Märchen-Genre auch feministisch modernisiert zu wenig bekömmlich ist und wer auf der Suche nach feinen Vorlese-Bilderbüchern ist, wird mittlerweile auch fündig, etwa mit „Julian ist eine Meerjungfrau“ (Knesebeck). Das bemerkenswerte Werk über Individualität und Akzeptanz mit einer Hauptfigur, die fernab von Geschlechterklischees agiert – und agieren darf –, ist ziemlich eingeschlagen. Die Geschichte über ein Kind, das sich als Meerjungfrau verkleidet und mit seiner Oma in kunstvollen und expressionistischen Kostümen an einer Mermaid-Parade teilnimmt, kommt mit wenig Text aus, umso stärker wirkt die Bildsprache der eindrucksvollen Illustrationen.
Ein niedliches Bilderbuch (nicht nur) über unerfüllten Geschwisterwunsch ist „Der beste Babysitter der Welt“ (Beltz & Gelberg). Hier wird der Hauptfigur kein Gender zugewiesen, das Nachbarsbaby heißt zwar Bruno, trägt aber eine Schleife am Kopf, und auch seine beiden Mamas repräsentieren eine Familienform abseits des Mainstreams.
Queer-feministische Jugendbücher. Auch queer-feministische Romane für Heranwachsende gibt es mitterweile einige. In der Graphic Novel “Regenbogentage” (Klett Kinderbuch) geht es um die elfjährige Tuva und ihren Alltag mit Schule, sich wandelnder Freund_innenschaft und ihrem alleinerziehenden Papa. Gelungen ist nicht nur die ganze Geschichte, sondern auch die Tatsache, dass Tuva sich in ein Mädchen verliebt und das unaufgeregt und nicht problematisierend erzählt wird. Eine ebenso berührende Freundschafts- und Liebesgeschichte, in der ein trans Junge eine Rolle spielt, ist “Fred und ich” (Beltz & Gelberg). Das Thema Geschlechtsidentität wird darin behutsam und gleichzeitig selbstverständlich miterzählt.
Für viel Aufregung in der Kinder- und Jugendliteraturwelt hat “Papierklavier” (Beltz & Gelberg) gesorgt. 2021 hätte es, von einer unabhängigen Jury gewählt, den katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis gewinnen sollen. Die zuständige Bischofskonferenz hat allerdings offenbar vorab einen Blick in das prachtvoll illustrierte Buch geworfen und ein Veto eingelegt. Warum konkret, blieb unklar, aber es gibt so einiges, das Bischöfen nicht gefallen könnte: Es geht um die Tochter einer alleinerziehenden Mutter, um Armut, Klassenunterschiede, einen offenen Umgang mit Sexualität und Körpern und eine trans bzw. nicht-binäre Nebenfigur. Immerhin: Es gab eine Welle der Solidarität mit der Autorin und dem Verlag, zahlreiche Menschen haben sich hinter dieses Buch gestellt und nicht zuletzt durch diesen Skandal hat es die Aufmerksamkeit bekommen, die es verdient. Am Einfluss der katholischen Kirche auf die Kinder- und Jugendliteratur ändert das leider nichts. Ein queer-feministisches Pendant zu einem solchen Preis gibt es bislang nicht.
Gequeert wurde 2023 allerdings der deutsche Jugendliteraturpreis! „Die Sonne, so strahlend und Schwarz“, ein kraftvoller Versroman, in dem es unter anderem um häusliche Gewalt und rassistische Polizeigewalt, aber auch um Freundinnenschaft, Familienzusammenhalt, Resilienz, Rollkunstlauf, erstes Verliebtsein, Begehren und um queere Ahninnen geht, ist dieses Jahr nominiert. Egal, ob das großartige Buch gewinnt oder nicht, es hat die Autorin Chantal-Fleur Sandjon als starke Schwarze queere Stimme in der deutschsprachigen
Jugendliteratur bekannt gemacht. •
Carla Heher ist Literaturvermittlerin, Kinderbuchinfluencerin, Volksschullehrerin und Vorleserin zweier Kinder.