auch feministinnen altern
Was wäre die Gesellinnenschaft ohne sie, ohne uns? Ohne jene Wesen, die meist unbemerkt irgendwo eintreten, und auch wenn sie gehen, fällt es nicht auf. Sie haben das Stadium der Unsichtbarkeit erreicht, von dem sie oft hörten. Sie könnten alles tun, nackt auf Tischen tanzen oder terroristische Akte vollbringen. Aber okay, die Tische sind etwas hoch und anders als junge Männer haben sie auch nicht die geringste Lust zu sterben.
Die, die also irgendwie auch da sind, sind halt irgendwie auch da. Bei Kulturveranstaltungen sind sie in der Mehrzahl, ältere Dramen scheinen ein Bedürfnis zu haben, sich weiterzuentwickeln, die seltenen männlichen Begleiterscheinungen outen sich als Verschleppte. Ihrem Glaserl Wein sprechen sie eher abseits zu, vielleicht spricht es ja mit ihnen. „Lauter alte Frauen!“, dachte ich, knackige 55plusminus, angeödet. Ich hütete mich davor, von einer älteren Person weiblichen Geschlechts in ein Gespräch verwickelt zu werden, es würde sicher langatmig werden, vielleicht hatte dieser oder jener Herr etwas Geistreiches auf Lager, oder ein andrer Mensch mit Jugend und Stil.
Seit ich die Alters-Schamschwelle schamlos überschritten habe, finde ich ältere Dramen plötzlich interessant. Was sie alles zu erzählen haben! Und sie können erzählen. Die 100-jährige Künstlerin, Liebesveteranin und Kunstpionierin. Ältere Dramen sind außerdem gut. Eine Mindestpensionistin überreicht dem Bettler mit Plastikbeinen ein Scherflein, säuberlich füllt die Greisin Erlagsscheine aus, für Kinder mit schrecklichen Krankheiten in Afrika. Das letzte Reservat der Güte, eine vollkommen unkapitalistische Eigenschaft. Wer steht bei sozialen Aktivitäten hinter dem Stand, wer liest mit Volksschulkindern? Wer hört sich Fortsetzungsgeschichten von Liebe und Kummer an und grenzt sich nicht ab und sagt nicht „dein Problem“? Wer hat all das schon gehabt und war all das schon, wer ist so ein Lebensprofi? Großzügig, großmütig wie eine Großmutter.
Und wer will nicht so ein großartiges Wesen sein?
Vielleicht übertreibe ich ein bisschen.
Michèle Thoma hat die 55plusminus überschritten, war aber immer schon gern bei Kulturveranstaltungen.