Seit Februar erschüttern Erdbeben die Region um Syrien, die Türkei und Kurdistan. Weit mehr als 50.000 Menschen starben bereits durch das Beben – entweder sofort oder frierend, hungernd unter den Trümmern, weil keine Hilfe vor Ort war. Auch jetzt ist in vielen Regionen noch lange nicht die Hilfe angekommen, um zumindest all jene zu versorgen, die seit dem Beben ohne Zuhause, medizinische Versorgung und Nahrung bleiben müssen.
Die Welt ist für viele seit dem 6. Februar nicht mehr dieselbe. Viele meiner Freund*innen, die Familie in der Region haben, verbringen ihre Tage und Nächte vor dem Handy oder dem Fernseher, um die Nachrichten mitzuverfolgen. Freund*innen und Familienangehörige sind teilweise bis heute nicht erreichbar. Sie wissen nicht, wie es ihren Liebsten geht. Sie wissen nicht, ob je Hilfe bei ihnen angekommen ist.
Ich verfolge, wie meine Freund*innen von früh bis spät auf Instagram posten, sich gegenseitig informieren und unterstützen. Wie sie gemeinsam trauern, von ihren Ängsten erzählen und über politisches Versagen aufklären. Sie tun all das, und haben trotzdem Uni-Abgaben, Hausarbeiten und Jobs, denen sie nachgehen müssen.
Viele haben durch das Beben alles verloren – ihre Welt steht still. Die Welt in Österreich, Deutschland und anderswo dreht sich jedoch weiter. Ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse derer, die jetzt so viel Schmerz durchleben müssen.
Ich spreche mit einigen Bekannten, die mir alle erzählen, dass sie ausschließlich von anderen Betroffenen und Migrant*innen gefragt worden sind, ob es ihnen gut geht, ob sie denn etwas brauchen würden. Dass sich ihre autochthonen Arbeitskolleg*innen, Mitschüler*innen oder Lehrkräfte kein einziges Mal nach ihnen und ihren Familien erkundigt haben. Keine empathischen WhatsApp-Nachrichten. Keine Anrufe. Keine Uni-Rundmails, die Betroffenen mehr Zeit für ihre Hausarbeiten zusichern. Nichts.
Ich besuche die Webseite der Universität Wien, in der Hoffnung, auf Informationen zu stoßen, die betroffenen Studierenden mehr Zeit für ihre Deadlines und Abgabefristen sicherstellen. Alles, was ich finde, ist ein Statement, das eine ganze Woche nach dem Erdbeben veröffentlicht wurde und aus einem einzigen Satz besteht.
„Die Universität Wien spricht allen Betroffenen sowie deren Familien und Freund*innen, die unter den Folgen des schweren Erdbebens in der Türkei und Syrien leiden, ihr tiefstes Mitgefühl aus“. Darunter ein Spendenlink zum Roten Kreuz. Das war‘s. Keine weiteren Infos für Studierende. Keine Hilfsangebote.
Drei Tage nach dem Erdbeben schreibe ich meiner Freundin Fatima und frage, ob sie Neues von ihrer Familie gehört hat. Ihre Antwort: „Fünf unserer türkischen Verwandten haben es nicht geschafft. Für heute habe ich mir aber vorgenommen in den Alltag zurückzukehren. Schließlich geht das Leben hier ja weiter …“
Ich sage ihr: „Es ist vollkommen okay, wenn du mehr Zeit brauchst, um dich davon zu erholen. Stell dir vor, einer Lisa würde über Nacht all das passieren. Alle hätten Verständnis, wenn sie länger keinen Kopf für Arbeit und Uni hätte.“ Ihre Antwort: „Ich bin aber keine Lisa.“
Das stimmt. Einer Lisa würde man so etwas nie zumuten. Eine Lisa, die gerade mehrere Verwandte an eine Naturkatastrophe verloren hat, würde mit Sorge und Verständnis begegnet werden. Eine Fatima muss es aushalten können.
Hierzulande sind die Menschen, die gerade unter und über den Trümmern ums Überleben kämpfen, nicht mehr als Zahlen. Zahlen, nach denen man sich nicht erkundigt. Zahlen, um die man sich nicht sorgt. Zahlen, die egal sind. •