Es ist die schlimmste aller Möglichkeiten, aber wir sollten sie zumindest in Betracht ziehen: Was, wenn es an den Wähler:innen selbst liegt? Die lieber den verurteilten Sexualstraftäter Trump wählen als eine Frau, noch dazu eine Schwarze. Die lieber die Demokratie abwählen und einen Autokraten an die Macht, als in „Wokistan“ zu leben, wo womöglich auch illegalisierte Migrant:innen und trans Personen unter dem Schutz unantastbarer Menschenrechte leben dürfen. An gewissen- und skrupellosen Wähler:innen, die ihr Schicksal lieber einem schwindligen Haufen dahergelaufener Broligarchen und Frauenhasser anvertrauen, die Kritikerinnen als Bitches beschimpfen und in Gewehrläufe blicken lassen wollen. Statt ihren Kandidaten als das zu sehen, was er per Definition unbestreitbar ist: ein Faschist. Und die nach dem Wahlsieg „Your body, my choice. Forever“ triumphieren, wie der Rechtsextreme Trump-Buddy Nick Fuentes, der mit diesem Tweet viral ging.
Was wäre das nur für ein feministisches Märchen gewesen! Frauen haben endlich die Schnauze voll und wählen ihre erste Präsidentin, die der Welt damit ein für alle Mal beweist, dass man mit einem Wahlkampf, der das Recht auf Abtreibung nicht nur offensiv zum Thema macht, sondern es sogar ins Zentrum stellt, tatsächlich Wahlen gewinnen kann. Das haben wir doch immer gesagt!
Schwarze Frauen hätten diesen Traum mit überwältigender Mehrheit wahr gemacht, sie wählten zu über neunzig Prozent Kamala Harris. Weiße Frauen hingegen stimmten mehrheitlich (53 Prozent) für Trump – und damit gegen ihre eigenen, sogar überlebenswichtigen, Interessen. Schließlich sterben auch sie an unterlassener Hilfeleistung in medizinischen Notfällen aufgrund restriktiver Abtreibungsgesetze.
Wie lässt sich das Unfassbare erklären? „It’s the economy, stupid“, heißt es wieder reflexartig. Inflation und Lebensmittelpreise seien eben wahlentscheidend gewesen, nicht „Identitätspolitik“. Eine Nachwahlanalyse, die wir schon von Hillary Clintons Niederlage kennen. „Es sollte nicht überraschen, dass eine demokratische Partei, die die Arbeiterklasse im Stich gelassen hat, feststellen muss, dass die Arbeiterklasse sie im Stich gelassen hat“, wütet Bernie Sanders genau wie damals. Maureen Dowd schreibt in der „New York Times“, Harris habe den kolossalen Fehler gemacht, eine milliardenschwere Kampagne mit Prominenten wie Beyoncé zu führen, während viele der von ihr umworbenen Wähler:innen aus der Arbeiter:innenklasse sich nicht einmal eine Anzahlung für ein Haus leisten könnten. „Der Durchschnittsbürger“ würde daraus den Schluss ziehen, dass Harris nicht „versteht, was ich durchmache“, so ihre Conclusio. Das mag durchaus stimmen. Aber wieso sollten wir davon ausgehen, dass der Goldtower-Großkotz Trump in dieser Hinsicht glaubwürdiger ist? Trump, der unverhohlen für eine Politik steht, die diesem Durchschnittsbürger auch noch das letzte Hemd nehmen wird? Es wurde nach der Wahl viel über „Vibecession“ diskutiert. Der Begriff beschreibt die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen ökonomischen Lage und der subjektiven, negativ verzerrten Einschätzung. Denn de facto befinden sich die USA in der besten Wirtschaftslage seit langer Zeit, beachtliche achtzig Prozent der Reallöhne sind zuletzt gestiegen. Joe Biden hat die profilierteste anti-neoliberale Politik seit Jahrzehnten gemacht und von seinem „American Rescue Plan“ profitierten nicht in erster Linie die Konzerne, sondern vor allem die Arbeiter:innenklasse.
Die Not vieler Menschen, die sich den Einkauf nicht mehr leisten können, ist deshalb selbstverständlich nicht weniger real. Doch wenn es beim Aufstieg rechtspopulistischer Demagogen, den wir global erleben, wirklich um glaubhafte Arbeiter:innenpolitik ginge, die man den „liberalen Eliten“ nicht abnimmt, wieso gewinnt dann in Österreich gottverdammt nochmal Herbert Kickl (erschreckenderweise diesmal auch bei den Frauen) und nicht Andi Babler, der so sehr Bernie Sanders ist, wie man es in Österreich eben sein kann?
„Die amerikanische Bevölkerung ist wütend“, argumentiert Sanders und zeigt Verständnis. Schwarze Frauen jedoch, die am meisten Grund zur Wut haben, wählten Harris. Warum? Weil es eben nicht nur die Wut der Deklassierten ist, sondern auch die schreckliche Wut einer ultrarechten, weißen Männlichkeitsideologie, die mit einer gigantischen Social-Media-Propagandaschlacht angeheizt wurde und offenbar auch bei vielen Wählerinnen ideologisch verfängt. Sie müssen wir endlich als eigenes Wahlmotiv ernst nehmen. Ihr müssen wir entschlossen entgegentreten.