„Mein Kind ist schlecht in der Schule. Es bekommt schlechte Noten und ist wütend.“ Wann immer ein Satz wie dieser in diversen Facebook-Gruppen fällt, folgt unweigerlich bald die Antwort: „Hast du sie/ihn schon testen lassen? Sicher hochbegabt!“ Besonders beliebt ist diese Ferndiagnose in Gruppen mit vielen privilegierten – weißen, wohlhabenden und gebildeten – Müttern. Den Tipp, dass das Kind vielleicht einfach ein wenig mehr lernen sollte, gibt es dort selten. Oder dass eine psychologische Begleitung wegen der Wut und Aggression vielleicht sinnvoll wäre. Um das gleich klarzustellen: Ich bezweifle nicht, dass es hochbegabte Kinder gibt. Allerdings frage ich mich, warum diese Kinder offenbar so überdurchschnittlich häufig in privilegierte Familien geboren werden, während diese Diagnose in ökonomisch benachteiligten Familien kaum bekannt zu sein scheint. Wie viele Kinder gehen in sogenannte „Brennpunktschulen“, die ebenfalls hochbegabt oder höchstbegabt sind? Kinder, die in prekären Verhältnissen aufwachsen. Kinder mit Migrationsbiografie. Kinder, von denen nur der Besuch einer Pflichtschule erwartet wird.
Der Ruf dieser Schulen verdankt sich meist der schlechten Schulleistung und dem Chaos in den Klassen. Wäre es möglich, dass die Kinder dort ganz einfach schlechte Noten schreiben und eine Wut in sich haben, weil niemand ihre Talente entdeckt? Vermutlich erlauben es ihre Lebensrealitäten nicht, solche Dinge testen zu lassen, möglicherweise wissen die Eltern nichts von den Möglichkeiten. Außerdem führen fehlende Sprachkenntnisse immer wieder dazu, dass Kinder als weniger begabt eingestuft werden, selbst wenn sie überdurchschnittlich intelligent sind.
Legasthenie, AD(H)S, Hochbegabung, Höchstbegabung – all das sind Diagnosen, die ständig gestellt werden. Vermutlich würden sie auch jene Kinder bekommen, die einfach nicht getestet werden. Wir wissen es nur nicht. Stattdessen werden sie als faul, laut, aggressiv, ungezogen, unkonzentriert oder gar wenig intelligent eingestuft. Einige dieser Kinder landen in einem System, das Sonderschule heißt – Schulen für Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf. Immer wieder erfahre ich, dass Kinder mit Migrationsbiografie dort landen, weil sich ihnen niemand annimmt und niemand sie fördert. Ich selbst habe noch keine Kinder, daher habe ich grundsätzlich Verständnis für Eltern, die für ihre Kinder das Bestmögliche wollen. Sicher muss es Kindern leichter gemacht werden, sich in diesem Bildungssystem wohlzufühlen (auch wenn es dringend reformiert gehört). Und sicher ist dabei eine gute Diagnostik hilfreich. Jedoch frage ich mich schon, was der beste Weg ist, um mit solchen Diagnosen umzugehen. Denn ich halte es für absolut okay, wenn ein Kind nicht lauter Einser in der Schule hat. Weniger gute Noten haben – zumindest in höheren Schulen – weniger Impact, als viele glauben. Schafft man die Matura, fragt einen in der Regel niemand mehr nach den Noten der anderen Jahre. Zumindest in Österreich macht der Notenschnitt keinen Unterschied für ein späteres Studium. Es würde den Kindern vermutlich mehr helfen, wenn sie auch mal einen Dreier oder Vierer heimbringen könnten, ohne dass das groß problematisiert wird. Relevant sind die Noten nur für einen Schulwechsel. Besonders der frühe Wechsel von Kindern zum Gymnasium oder zur Neuen Mittelschule verfestigt soziale Ungleichheit, es ist ein Problem, das wir mit einer Gesamtschule für alle Kinder anpacken könnten. Wir dürfen Kindern nicht so früh die Möglichkeit nehmen, ihre Potenziale und Talente zu entdecken. Es schmerzt mich, daran zu denken, wie viel Potenzial Kinder hätten, denen von Anfang an kaum Chancen gegeben werden. •