Saioa Alvarez wurde 2023 mit dem renommierten Nestroy-Preis ausgezeichnet. Die Performerin
mit Behinderung geht regelmäßig an ihre Grenzen – starke Rollen wie in „Ophelia’s Got Talent“
soll es für alle Künstler*innen geben, fordert sie. Von Hannah Schmidt.
Faszinierende Bühnenpräsenz«, „doppelbödiger Witz«, „Draufgängertum“ – so beschrieb die Jury des Nestroy-Preises im November vergangenen Jahres die Performerin Saioa Alvarez. Sie mache „absolut nicht, was man von Menschen mit Behinderung im Theater gewohnt ist“. In ihrer Rolle in Florentina Holzingers „Ophelia’s Got Talent“ steppte sie nackt auf der Bühne, strippte als Magic Mike im Blaumann, erlebte eine Wassergeburt und hatte Sex in einem knallgelben Helikopter, der von der Decke hing. Den Preis als „beste Schauspielerin“ bekam sie somit auch für die Verkörperung einer Normalität, die man sich fürs Theater bisher nur wünschen kann. Eine Normalität, in der behinderte und queere Menschen ganz selbstverständlich alle Rollen spielen: „Ich sehe großen Bedarf an queeren behinderten Liebesgeschichten“, sagt Saioa Alvarez im an.schläge-Gespräch, „auch an einem behinderten queeren Actionfilm, einer Mafia mit einem weiblichen Boss. Also behinderte und queere Stories in allen Genres, im Tanztheater und im Film, in allen Berufs- und Altersgruppen und mit allen Herkünften.“
Saioa Alvarez ist 1990 in Bilbao geboren und kam im Alter von drei Jahren nach Deutschland. Sie hat Soziologie, Politik- und Medienwissenschaft sowie Theaterpädagogik studiert. Ihren höchsten Bildungsgrad erlangte sie allerdings durch das Leben mit Behinderung, ergänzt sie auf ihrer Website. Beim Gespräch im Dezember ist Saioa Alvarez in ihrer Berliner Wohnung, sie ist über Zoom zugeschaltet. Über „Ophelia’s Got Talent“ spricht die Performerin nicht zum ersten Mal, das ist klar, die Begeisterung ist ihr aber noch immer anzumerken. „Dass ich für physisch so intensive Produktionen gefragt werde, ist nicht selbstverständlich“, sagt sie. „Dass mein Name assoziiert wird mit körperlicher Anstrengung, damit, Körper zu spüren und einzusetzen – das passiert nicht oft.“ Regisseurin Florentina Holzinger setzte wenige Grenzen und ließ der Fantasie ihrer Darsteller*innen freien Lauf. Die Magic-Mike-Parodie, der Tanz, „beides kam komplett von mir“, sagt Alvarez. Nackt zu sein auf der Bühne wurde durch die Arbeit am Stück für sie „zu einem komfortablen zweiten Outfit“: „Ich würde sagen, ich habe mir Scham abtrainiert. Teilweise spüre ich sogar eine Kombination aus diesem Nacktsein und einer gewissen Bro-igkeit, die ich mir mehr und mehr angeeignet habe.“
„Bro-igkeit“, das meint für sie das Spiel mit maskulinen Stereotypen, ihre Überzeichnung, ihre Aneignung. „Ich würde auf keinen Fall propagieren, dass es förderlich ist, als Flinta-Person toxische Männlichkeit zu reproduzieren und damit Scheiße in der Welt zu verbreiten.“ Aber es gebe auch neutrale Elemente, die durchaus effektvoll seien: „Raum einnehmen, laut sein – das ist etwas, das man sich ohne schlechtes Gewissen aneignen kann, weil Flinta das nicht von vorneherein selbstverständlich mitbekommen.“ Dabei hatte Saioa Alvarez nie ein Problem damit, laut zu sein: „Als Frau mit Behinderung und mit meiner überdurchschnittlich kleinen Körpergröße ist eine vernünftig laute Stimme auszubilden die Kompensation, um mit Nachdruck das zu bekommen, was du willst.“ Schon als Teil ihrer ersten Performance-Gruppe RAMPIG riss sie Hochzeitstauben aus Plastik den Kopf ab und bemalte sie mit roter Farbe, zeigte sich nackt, zerstörte Dinge und sorgte dafür, dass ihren Zuschauer*innen das Lachen im Halse stecken blieb. „Ich performe gerne Dinge, die ich normalerweise nicht tue“, sagt Saioa Alvarez, „ich bin auf der Bühne gerne eine Spur hässlicher, rauchender, lauter und härter als im Alltag.“
Das Publikum, sagt Saioa Alvarez, solle auf keinen Fall noch mehr von dem zu sehen bekommen, was ohnehin schon überall zu sehen ist. Ständige Reproduktion der gleichen Stereotype, die auch mit der Normalisierung bestehender Machtverhältnisse und Rechtfertigung von Gewalt einhergeht – einfach nein. „Es muss keine Rolle mit Behinderung sein, damit ich sie verkörpern kann“, sagt sie. „Ich will die Rollen der Nichtbehinderten und sie einfach alle behindert machen. Das ist meine Spezialität.“
Hannah Schmidt ist freiberufliche Musikjournalistin und schreibt unter anderem für das Feuilleton der ZEIT, den WDR, SWR und BR. 2023 hat sie zusammen mit dem Frauenkulturbüro NRW das Buch „Dirigent*innen im Fokus – Warum die klassische Musik fundierte Machtkritik braucht“ herausgegeben.