Warum wurde zur Beziehung zwischen Schwestern bisher so wenig geforscht? Und was braucht es, damit feministische Schwesterlichkeit gelingt? Darüber hat Lea Susemichel mit der Psychoanalytikerin Anita Dietrich Neunkirchner gesprochen.
an.schläge: Sie sprechen von einer „Schwesternlücke“ in der Forschung – sowohl in der Sozialwissenschaft als auch in der Psychoanalyse. Wie erklären Sie diese?
Anita Dietrich-Neunkirchner: Sowohl die Psychoanalyse als auch der Feminismus, zwei Denktraditionen, die mich stark geprägt haben, entstanden um 1900. Freud behandelte damals bürgerliche Frauen, die aufgrund der repressiven Sexualmoral und der patriarchalen Unterdrückung körperliche Symptome entwickelten. In seiner Forschung über die Psyche dieser Frauen profitierte Freud also letztlich vom Patriarchat. Als ich mich kritisch an seinen Weiblichkeitstheorien abgearbeitet habe, stieß ich auf das, was ich die „Schwesternlücke“ nenne. Die psychoanalytische Gemeinschaft folgt Freud bis heute in vielem blind und hat sich deswegen auch nicht viel mit dem Thema Schwesterlichkeit beschäftigt.
Obwohl Freud selbst ja viele Schwestern hatte.
Ja, genau das fand ich so faszinierend. Freud hatte fünf Schwestern und lebte 28 Jahre seines Lebens mit mindestens einer Schwester im Haushalt, Schwestern sind aber in seiner Theorie kaum vorgekommen. Auf den 6.000 Seiten seiner gesammelten Werke gibt es etwa 300 Verweise auf den Vater, 250 auf die Mutter und fünfzig auf Brüder oder Geschwister – aber nur 13 auf Schwestern. Und nur eine einzige Erwähnung bezieht sich auf die Beziehung zwischen den Schwestern selbst, ansonsten geht es immer um deren Bezug zu Eltern oder Brüdern. Die klassische Psychoanalyse konzentrierte sich hauptsächlich auf vertikale Beziehungen, also die zwischen Eltern und Kind. Diese Perspektive passt in ein patriarchales System und blendet die horizontale Ebene – die Beziehung zwischen Geschwistern – aus. Mädchen waren in diesem System besonders wenig wert, noch weniger als die reproduktive Frau.
Geschwisterbeziehungen zählen zu den längsten Bindungen, die Menschen in ihrem Leben haben. Sie erwähnen, dass die Geschwisterforschung dennoch ein junges Feld ist. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse dieser Disziplin?
Nicht die Geschwisterbeziehungen sind die längsten Beziehungen des Lebens, sondern die Schwesternbeziehungen! Schließlich leben Frauen statistisch gesehen länger. Die Geschwisterforschung begann mit Alfred Adler, dessen tiefenpsychologische Ansätze diese Beziehungen ernster nahmen als die Psychoanalyse. Bei Adler stehen oft Minderwertigkeitsgefühle im Zentrum – der Zweitgeborene möchte den Erstgeborenen übertreffen, von „seinem Thron stoßen“ etc. Sozialwissenschaftliche Studien haben die Geburtsreihenfolge stark betont, was mittlerweile jedoch kritisiert wird. Der Geburtsrang – also ob jemand das erste, zweite oder dritte Kind ist – ist nur einer von vielen Faktoren. Viel entscheidender ist, dass jedes Kind quasi in eine andere Familie hineingeboren wird, da die Umstände sich über die Zeit verändern. Die Eltern werden älter, entwickeln sich weiter und die familiären Rahmenbedingungen auch. Großeltern sterben, es gibt mehr Geschwister. Zudem prägen das Geschlecht und die damit verbundenen, unbewussten Erwartungen durch die Eltern die Geschwisterdynamik. Die Rolle, die ein Kind in der Familie einnimmt, hängt somit von vielen Faktoren ab und ist komplex.
Was lässt sich aus psychoanalytischer Sicht über Geschwisterbeziehungen sagen? Wie prägend sind sie?
Sehr prägend. Eine große Rolle spielt aber auch dabei das elterliche Unbewusste, in dem alle Erfahrungen gespeichert sind. Eltern hatten selbst Geschwister – oder auch nicht, vielleicht haben sie welche vermisst. Und das Unbewusste ist immer auch ein kultureller Speicher, selbst das Frauenbild des Großvaters spielt noch mit hinein. Dieses ganze unbewusste Konglomerat wird durch die sinnlich-körperliche Interaktion mit dem Baby übertragen. Wie unterscheidet sich die Körperpflege? Welche Begriffe werden für die Vulva oder die Klitoris verwendet, im Unterschied zu den vielen Namen für den Penis? Da gibt es große Unterschiede. Dadurch gebe ich meinen Kindern unausgesprochen Vorstellungen zu Weiblichkeit und damit auch zu Schwesterlichkeit weiter.
Juliet Mitchells Theorie in ihrem Buch „Siblings“ gefällt mir sehr gut. Wie gehen die Eltern mit den Aggressionen ihrer Kinder um? Dürfen diese Aggressionen sein?
Nur wenn das Geschwisterkind erlebt, dass es hassen darf, kann es das Geschwisterchen auch lieben. Wenn Aggression immer unterdrückt wird, führt das zu innerem Leiden, was besonders auf Frauen zutrifft, die ihre Aggressionen oft unterdrücken müssen.
Sind Schwesternbeziehungen häufig von Neid und Rivalität geprägt?
Rivalität ist etwas ganz Normales – jede:r will einzigartig und besser sein. Bei gleichgeschlechtlichen Geschwistern gibt es jedoch weniger Differenzen, was zu ständigen Vergleichen führt und Rivalität anfacht. Wichtig ist, dass Eltern die Unterschiede zwischen den Kindern fördern. Der Versuch, alle gleich zu behandeln, kann das Gegenteil bewirken. Eltern sollten z. B. darauf achten, nicht jedem Kind dasselbe zu schenken, sondern stattdessen auf individuelle Bedürfnisse einzugehen.
Studien zeigen, dass Menschen mit Schwestern glücklicher sind. Woran liegt das?
Daran, dass Schwestern als Frauen oft darauf sozialisiert sind, Gefühle zuzulassen, zu kommunizieren, auf andere einzugehen und sich zu kümmern. Die Schwester gleicht Defizite in der Familie aus, sie ist oft der Kitt in Familienstrukturen, pflegt die Eltern, hält den Kontakt und die Beziehungen am Laufen.
Gerade der großen Schwester wird oft auch viel Sorgearbeit aufgehalst, bei entsprechendem Altersabstand nimmt sie sogar manchmal die Rolle einer zweiten Mutter ein. Wie unterscheidet sich die Beziehung zwischen Schwestern von der zwischen Bruder und Schwester?
Jeder Bruder kann froh sein, wenn er eine Schwester hat, die das macht und auch später seine Defizite ausgleicht. Schwestern selbst profitieren vor allem im Alter voneinander, da sie auf gemeinsame Erlebnisse zurückblicken und sich in Notsituationen gegenseitig unterstützen können. Sie teilen in der Regel dieselbe Sozialisation, können darauf aufbauen und die Beziehung wieder aufnehmen, selbst wenn sich ihre Lebenswege zwischendurch getrennt hatten. Studien zeigen, dass Frauen, die ihre Schwester in der Nähe haben, fitter und gesünder sind.
Das feministische Konzept der Sisterhood war immer überfrachtet mit Wunschfantasien an eine harmonische, solidarische Schwesternbeziehung. In Wahrheit wurden damit auch viele Konfliktlinien zugedeckt, wie etwa die Kritik von Schwarzen Feministinnen deutlich gemacht hat. Wird Schwesternschaft idealisiert, gerade unter Feministinnen?
Wenn ich mit feministischer Solidarität nur ein gemeinsames Ziel verfolge und die einzige Ausrichtung ein gemeinsamer „Außenfeind“ ist, dann wird diese Solidarität nicht von Dauer sein. Es braucht etwas, das ich als „Affection“ bezeichnen würde – eine zärtliche Bindung zwischen Frauen, eine Form von schwesterlicher Zärtlichkeit, aus der alle Beteiligten auch Genuss ziehen. So wird verhindert, dass Konflikte überhandnehmen. Psychoanalytisch gesehen schwingt dabei immer auch eine homosexuelle, homoerotische Ebene mit, die sublimiert wird. Diese Ebene ist auch in Männerbünden und Männerfreundschaften vorhanden, wird dort jedoch noch stärker tabuisiert. Das entspricht Freuds These, dass wir alle bisexuell sind und dabei jeweils das eine oder andere mehr oder weniger stark sublimieren.
Aber was ist mit der Idealisierung?
Ja, die gibt es, und sie ist problematisch. Aggression gehört dazu, es braucht auch die Auseinandersetzung. Nach Freud gibt es zwei grundlegende Triebe: Sexualität und Aggression. Der eine führt zur libidinösen Bindung, der andere zu Differenz. Beides brauchen wir, sowohl in Liebesbeziehungen als auch im Konzept der Schwesterlichkeit.
Sie schreiben im Vorwort Ihres Buches über die biografischen Gründe, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Woher kam Ihre Sehnsucht nach einer Schwester und wie haben Sie sie sich erfüllt später im Leben?
Ich bin mit einem älteren Bruder aufgewachsen und habe mir immer eine Schwester gewünscht, mit der ich mich austauschen kann, von „gleich zu gleich“. Ich hatte also ein romantisches Schwesternbild. Es gab aber zumindest zwei soziale Schwestern, die von meiner Mutter und Großmutter als Tagesmütter mit aufgezogen wurden. Dadurch kannte ich eine Nähe, die ich auch später mit Frauen gesucht habe. Ich war viel in feministischen Frauengruppen aktiv und habe mit anderen Frauen den Verein „selbstlaut“ gegen Kindesmissbrauch gegründet. Dabei haben wir auch gemerkt, wie wichtig es ist, Konflikte auszutragen. Auch bei Frauenpaaren, zu denen ich geforscht habe, hat sich gezeigt: Konflikte müssen angesprochen werden, sonst bleibt auch eine Arbeitsbeziehung nicht stabil. Es reicht nicht aus, nur ein gemeinsames Thema zu haben.
In Ihrer Studie „Symbolische Schwesternschaft“ haben Sie beforscht, wie Schwesternschaft Frauen im späteren Berufsleben durch Übertragungsbeziehungen beeinflusst.
Ja, aufgrund meiner eigenen Beziehungen habe ich mich sehr für Arbeitsbeziehungen zwischen Frauen interessiert und wollte dem Klischee entgegentreten, dass Frauen immer konkurrieren und rivalisieren. Ich habe mehrstündige Tiefeninterviews mit Frauen geführt, die seit mehr als zehn Jahren erfolgreich ein Unternehmen auf gleicher Hierarchieebene gemeinsam leiten – also auf eine „schwesterliche“ Weise. Die Forschungsfrage war, was diese Partnerschaften erfolgreich macht und welche unbewussten Faktoren dabei eine Rolle spielen.
Was waren dabei die wichtigsten Erkenntnisse?
Ein Schlüssel zum Erfolg ist bei allen die Wertschätzung der Unterschiede. In den getrennt voneinander geführten Interviews kam heraus, dass jede Frau bei der anderen Eigenschaften schätzt, die sie selbst nicht hat. Fürsorge und Empathie spielen zudem eine zentrale Rolle. Es handelte sich bei all diesen Beziehungen um eine Mischung aus „schwesterlichen“ und „mütterlichen“ Übertragungsphänomenen. Allen Interviewpartnerinnen gemeinsam war auch, dass sie eher problematische Beziehungen zu ihrer Mutter hatten. Es war in ihrer Kindheit eine Sehnsucht nach Fürsorge und einer empathischen Beziehung unerfüllt geblieben. Die „Berufsschwester“ hat also immer auch eine mütterliche Funktion übernommen.
Es zeigte sich auch, dass bei diesen „Schwesternpaaren“ meist eine der Frauen ein romantisches Schwesternbild hatte, wie ich selbst. Das waren oft diejenigen, die keine Schwester hatten. Die andere hingegen hatte oft ein konflikthaftes Schwesternbild, weil sie sich durch ihre Geschwister nicht gesehen und nicht wichtig genommen gefühlt hatten. Die Arbeitsbeziehung bot also immer auch eine Möglichkeit zur Korrektur früherer, schwieriger Geschwistererfahrungen.
Und diese Beziehungen gingen über die reine Berufspartnerschaft hinaus, es entwickelte sich eine fast familiäre, schwesterliche Verbundenheit. Eine der Frauen hat im Interview zu mir gesagt: „Ich wüsste nicht, was passieren könnte, dass ich den Kontakt zu ihr abbreche. Selbst wenn sie die FPÖ wählen würde – dann würde ich denken, dass sie umnachtet ist oder eine psychische Erkrankung hat. Aber ich würde trotzdem nicht die Beziehung beenden!“