KIRSTEN ACHTELIK übt scharfe Kritik an der Pränataldiagnostik und fordert (Queer-)Feminist_innen dazu auf, die Frage nach Selbstbestimmung neu zu stellen. Interview: KATHARINA PAYK
an.schläge: In Ihrer Auseinandersetzung mit den Rechten von Menschen mit Behinderung positionieren Sie sich immer klar als Feministin. Zugleich üben Sie scharfe Kritik an feministischen Gruppen, die sich für das Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch stark gemacht haben, indem sie für die eugenische Indikation plädierten. Die Gruppe „Brot und Rosen“ argumentierte 1974 etwa, dass es für die Bevölkerung ein Vorteil wäre, „dass solchen Schäden (damit ist eine angeborene Behinderung gemeint, Anm.) durch Forschung und Behandlung vorgebeugt wird“. (1)
Kirsten Achtelik: Ich glaube, dass „Brot und Rosen“ damals ausgesprochen haben, was viele gedacht haben. Der Diskurs rund um die Wiedereinführung der sogenannten eugenischen Indikation zeigt, dass es sehr wenig Auseinandersetzung damit gab. Natürlich ist das auch darauf zurückzuführen, dass der Großteil der Frauenbewegung sowieso keine Indikationsregelung haben wollte, sondern den Abtreibungsparagrafen abschaffen wollte – deshalb war für sie die Indikation nur zweitrangig. Aber andererseits fällt auf, dass es zur sozialen Indikation beispielsweise sehr wohl Auseinandersetzung gab. Es gab eine innerfeministische kritische Auseinandersetzung mit dieser sehr wichtigen Gruppe, aber nicht mit den behindertenfeindlichen Aussagen, die weibliche Selbstbestimmung und Leben mit behinderten Kindern gegeneinander stellten. Man kann daraus schließen, dass das eigentlich ein Konsens war in der Szene.
In der Gruppe „Brot und Rosen“ waren auch Aktivistinnen aus der Kinderladenbewegung, die sich dafür einsetzten, mit Kindern studieren, arbeiten und Politik machen zu können. Das heißt, es war ein Diskurs über das Leben mit Kindern – unter bestimmten, „erschwerten“, Umständen – da. Warum also war das Thema Leben mit Kindern mit Behinderung kein Thema? Sowohl Behindertenrechtsbewegung als auch feministische Bewegung sind beide emanzipatorische Bewegungen, die eigentlich die gleichen Ziele haben sollten.
Gibt es heute mehr Überschneidungen zwischen feministischer Bewegung und Behindertenrechtsbewegung, auch in Bezug auf Abtreibung?
In den letzten Jahren nimmt die Diskussion um Behindertenfeindlichkeit und Ableism in der (queer-)feministischen Szene schon zu. Bei den feministischen Gruppen im deutschsprachigen Raum, die gegen die verschiedenen Märsche von Abtreibungsgegner_innen mobilisieren, gibt es sehr wohl differenzierte Auseinandersetzungen damit, was es bedeutet, dass die Untersuchungen in der Schwangerschaft total zugenommen haben: Was bedeutet das in Bezug auf Leben mit Behinderung? Allerdings gibt es in etablierteren feministischen Zusammenhängen die Tendenz, Pränataldiagnostik (PND) gar nicht zu diskutieren und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und das Recht auf Inklusion getrennt zu diskutieren.
Sie beleuchten das Konzept der Selbstbestimmung kritisch. Wo geht es beim Umgang mit Schwangerschaftsabbruch und PND zu weit?
Heutzutage wird Selbstbestimmung von uns erwartet. Sie ist zum Maßstab für gutes Leben geworden. Es wäre schön, wenn wir in einer Welt lebten, in der alle Menschen darüber, wie sie leben wollen, und darüber, was mit ihrem Körper geschehen soll, tatsächlich selbst bestimmen könnten. Aber wir sind zugerichtet von gesellschaftlichen Normierungen, was es erschwert, zu wissen, warum man was will.
In der Schwangerschaftsvorsorge sieht man es daran, dass Angebote wie die PND nicht neutral ausgewählt werden können. Die ganzen Entscheidungen, die da zu treffen sind, gehen mit großer gefühlter Verantwortung einher, einer gesellschaftlichen als auch einer für das spätere Kind.
Es gibt einerseits Untersuchungen, die die Gesundheit und die Lebenserwartungen der Schwangeren bzw. des späteren Kinds positiv beeinflussen. Und es gibt andererseits die Untersuchungen, die vorgeben zu ermitteln, „ob alles okay ist“. Und das heißt konkret, ob der Fötus Anzeichen von Behinderungen trägt. Wenn man das (sowieso nur prozentuale) Wissen über eine fötale Behinderung hergestellt hat, ist noch nicht klar, wie die Ausprägung der Behinderung ist. Und was man dann überhaupt tun soll.
Schwangeren wird diese Unterscheidung in medizinisch sinnvolle bzw. notwendige und selektiv motivierte Untersuchung nicht deutlich gemacht. Die Untersuchungsprozesse sind unklar und überdeterminiert. Am Anfang von diesem ganzen Diagnosezirkus sagt einem ja niemand, was alles festgestellt werden kann bei den Untersuchungen. Es fehlt auch die Information, dass man gegebenenfalls nichts dagegen tun kann, sondern dann eben nur die Frage einer Abtreibung im Raum steht.
Und das bedeutet dann für die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen Ihrer Meinung nach was genau?
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen einem Abbruch aufgrund der Tatsache, dass kein Kinderwunsch besteht und der selektiven Abtreibung: Ich will zwar ein Kind, aber kein behindertes.
Für eine gewollte, angenommene Schwangerschaft das Beste für das werdende Kind und die Mutter ermöglichen zu wollen, ist eine Sache, aber selektive Tests zu machen, ist eine andere. Aus einer feministischen Perspektive finde ich es nicht legitim, eine gewollte Schwangerschaft aufgrund einer festgestellten Behinderung des werdenden Kindes abzubrechen, weil genau das behindertenfeindlich ist – wobei ich das der einzelnen Frau, die so eine Entscheidung trifft, nie vorwerfen würde.
Eine Person soll immer darüber entscheiden können, ob sie schwanger sein will oder nicht, aber eigentlich nicht darüber, ob das Kind behindert sein darf oder nicht. Dabei würde ich aber nie versuchen, selektive Abbrüche mittels Strafgesetzbuch zurückzudrängen – mein Ansatzpunkt sind immer die Untersuchungen.
Eine feministische Perspektive setzt also da an, wo schwangere Frauen in diesem Ablauf nicht früh genug und ausreichend informiert werden. Ich bin ganz klar dafür, den Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Aber als Feministin einen platten „Pro-Choice“-Feminismus zu fahren, der jede Entscheidung der Frau akzeptiert und auch legitimiert, da geh ich dann nicht mehr mit. Anders gesagt: Nur weil eine Frau etwas Bestimmtes gerne möchte, ist das noch lange keine feministische Forderung.
Wäre dann die Konsequenz aus dem Ganzen: Wer kein (potenziell oder tatsächlich) behindertes Kind kriegen will, sollte eigentlich gar keines kriegen?
Ja, schon. Ein Kinderwunsch ist total komplex geworden und überdeterminiert, das zeigt sich auch in den Debatten rund um Reproduktionstechnologien. Die Idee, dass man sich eine Erweiterung des eigenen Lebens schafft, dass etwas Schönes hinzukommen soll, aber nicht in Kauf nehmen zu können, dass auch etwas „schiefgehen kann“ (aus der Perspektive von der Person gesprochen, die sich etwas anderes gewünscht hat), ist eine problematische Herangehensweise an einen Kinderwunsch. Und an das Leben mit anderen Menschen. Die Idee, man nimmt nur die, die gut funktionieren können, ist absurd. Wenn Leute im Freundeskreis so agieren würden, dann hätten wir bald keine Freund_innen mehr!
Selektive PND verstärkt die Idee, dass Behinderung per se ein Problem und vermeidbar ist und sie verstärkt das negative Bild von (Menschen mit) Behinderung. Das Angebot, das untersuchen bzw. vermeiden zu können, sagt, dass dies ein Recht ist und dass man behinderte Kinder vermeiden kann und soll. Und das ist in meiner Interpretation nach UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 8 eine „schädliche Praxis“, die die unterzeichnenden Staaten sich verpflichtet haben zu bekämpfen.
Was sind also Ihre Forderungen?
Wenn man als linke Feministin Forderungen an den Staat stellen möchte, wäre es sicher als Erstes die, dass der Staat dafür zu sorgen hat, dass Menschen mit Behinderungen ohne Einschränkungen und gut leben können, ohne die ganze Zeit Anträge zu stellen und drangsaliert zu werden. Inklusion heißt nicht, Leute so fit zu machen, dass sie halbwegs mitlaufen oder -fahren können, sondern die gesellschaftlichen Ressourcen so zu verteilen, dass klar ist, dass Behinderung kein Problem sein muss.
Das Thema Schwangerschaftsabbruch muss raus aus dem Strafgesetzbuch, ganz eindeutig. Aber es muss auch eine Diskussion darüber entstehen, wie Schwangerschaftsabbrüche ansonsten geregelt werden können, dass sie selbstverständlich in Krankenhäusern, die öffentliche Gelder bekommen, angeboten werden müssen und dass die Durchführung eines Abbruchs in gynäkologischen Lehrplänen verankert ist.
Und es wäre es eine wichtige Maßnahme, zumindest keine erweiterten Pränataltests anzubieten, wie z. B. den „Praenatest“, einen Bluttest, der nach dem Downsyndrom sucht und der in vielen Ländern bereits in die öffentliche Gesundheitsvorsorge bei Schwangeren aufgenommen wurde, das heißt von den Kassen bezahlt wird.
Meine Forderung an die feministische Bewegung ist, den eigenen Anspruch, eine emanzipatorische Bewegung zu sein, ernst zu nehmen und intersektional gegen verschiedene Unterdrückungsmechanismen zu kämpfen. Die Idee der absoluten Kontrolle ist total antiemanzipatorisch.
Wenn die queer-feministische Szene über Ableism diskutiert, muss sie neben Barrierefreiheit auch das Thema PND angehen. Das Thema Behinderung kann zudem nicht nur auf einer Diskursebene verhandelt werden, sondern es muss das reale Leben von realen Personen mit Behinderungen an erster Stelle stehen. Und es kann auf keinen Fall sein, dass man sich damit begnügt, Ableismus als eine (weitere) Ausschlusserfahrung in seinen „Ismen“-Aufzählungen zu erwähnen.
Kirsten Achtelik ist Diplom-Sozialwissenschaftlerin und lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Ihre politischen und Arbeitsschwerpunkte sind u. a. feministische Theorien und Bewegungen, Schnittstellen mit anderen sozialen Bewegungen, v. a. der Behindertenbewegung, und Kritik an Gen- und Reproduktionstechnologien.
Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abreibung.
Verbrecher Verlag 2015
(1) Brot und Rosen, Frauenhandbuch Nr. 1: Abtreibung, Verhütungsmittel, 1974, S. 102.