Michèle Thoma
Diese tröstliche Botschaft verhieß Lotte Ingrisch, Gespensterexpertin, Jenseitsforscherin und Verfasserin von Büchern wie „Der Himmel ist lustig“ oder „Geisterknigge“ mir schon 2007. Das Interview in ihrem Zuhause in der Hofburg dauerte Stunden, aber was ist schon Zeit? Gibt es sie überhaupt, und gibt es uns überhaupt, und wenn, wie oft, und wo und wann? Unsere gerade aktuellen Verkörperungen hatten sich bei einer Tafel Schokolade in einem düsteren Raum mit wenig rustikalem Mobiliar installiert, Katzen huschten herum. Die stellte sie mir einzeln vor, auch die längst verblichenen, einige von ihnen kamen immer noch auf Besuch. So wie ihre Freund*innen und Bekannten, längst waren sie in anderen Dimensionen unterwegs, aber immer gern gesehene Gäste. Sie kamen einfach so hereingeschneit, hereingespukt, wie es ihnen passte, wenn Lotte Ingrisch es sich wie jeden Abend gemütlich bei Schokolade und Rotwein machte. Sie waren immer willkommen. Einsam war Lotte Ingrisch nie.
Sie diskriminierte auch Naturwesen nicht und plädierte für den Artenschutz von Gespenstern. Ihren verstorbenen Mann, den Komponisten Gottfried von Einem, hatte sie schon zu Lebzeiten Bärenfräulein genannt. Alle Zustände und Identitäten waren ihr fließend. Physik, Philosophie, tiefste Einsichten und weiteste Aussichten servierte sie in einer beinahe kindlichen und poetisch-witzigen Sprache: Bewusstseinserweiterung und -erheiterung! Lustig ist der Jenseits-Trip zwar nicht immer, praktische Tipps gibt die Expertin, wie man traurige „Tote“ aufmuntert und selber „tot“ sein trainiert. Der wirkliche Horror aber war für die Sterberechtlerin unerlöst an Schläuchen und Kabeln zu hängen, der lebendige Tod in Pflegeheimen, der die meisten Alten erwartet.
Lotte Ingrisch war quicklebendig, aber konnte den Tod kaum erwarten.
„An etwas Schönes denken, tief ausatmen und loslassen!“, lautete einer ihrer Sterbetipps. Warum auch nicht, wartete doch der Orgasmus des Lebens!
Nach wenigen Tagen im Spital ist die 94-Jährige „gestorben“. Endlich auf Reisen!
Michèle Thoma empfindet keine Vorfreude beim Gedanken an das Hinscheiden.