Am Ende bleiben die Fanatischen übrig. Ob auf Social Media oder auf Mailinglisten, die Diskussion dominieren meist jene mit den krassesten Positionen. Die Mehrheit der in ein Ohnmachtsschweigen gefallenen Mitlesenden sind sicher nicht der Meinung, dass die Hamas eine emanzipatorische Bewegung ist und der 7. Oktober ein Befreiungsschlag war. Sie glauben auch nicht, dass alle, die vor Antisemitismus in der pro-palästinensischen Solidaritätsbewegung warnen, vom „German Guilt“ zerfressene Antideutsche sind, die von der internationalen Linken überall sonst in der Welt verlacht werden. Sie sind aber auch nicht überzeugt, dass der Krieg angesichts des Hamas-Terrors gerecht sei und auch die zivilen Todesopfer in Gaza im Grunde selbst schuld, hätten sie sich halt in Sicherheit gebracht. (Sinngemäß war vieles davon tatsächlich auf einer linken Mailingliste zu lesen – wie auf vielen anderen wahrscheinlich auch.) Das Gefährliche an diesen Diskurs-Dominierern – fast unnötig zu erwähnen, dass sie nahezu ausschließlich männlich sind – und ihrer Kriegsrhetorik: Sie lassen bei allen anderen ein Gefühl von Ausweglosigkeit und unüberwindbarem Antagonismus entstehen, das die realen Verhältnisse massiv verzerrt. Denn während sie sich bloß auf die immergleichen Trigger-Formulierungen des Gegners stürzen, ohne dabei je wirklich verstehen zu wollen oder gar aufeinander einzugehen, würden sich die sprachlos Gewordenen wohl mühelos auf das aktuell Wichtigste in diesem vermeintlich auf ewig unlösbaren Konflikt einigen können: dass dieser Krieg aufhören soll. Und sie würden wohl auch der friedenspolitischen Binsenweisheit zustimmen, dass es dafür weniger statt mehr Fanatismus braucht.
Doch genauso wie Netanjahu und die Hamas für ihre perfide Politisierung der Eskalationsspirale unweigerlich aufeinander angewiesen bleiben, braucht es die ständige Heraufbeschwörung der Frontstellung offenbar auch in der Linken, um die eigene Position immer wieder neu zu profilieren. Alle anderen, die wir den Terror der Hamas ebenso verurteilen wie die Kriegsverbrechen Netanjahus, verschwinden in diesem dröhnenden Entweder-oder. Doch es gibt das Sowohl-als-auch, das Empathie mit den Opfern des 7. Oktobers ebenso wie mit jenen der israelischen Angriffe erlaubt. Womöglich zu verhindern, dass es weltweit groß und mächtig werden kann, ist wohl der schlimmste Schaden, den diese Schlachten anrichten. Denn ihre radikalisierte Kriegslogik, die keinen Zweifel und inzwischen noch nicht mal Zuhören erlaubt, lässt alle anderen verstummen. „Ihre Perspektiven und ihre Ansichten sind nicht in den Medien, nicht auf den Demos und auch sonst nicht vertreten“, sagt Swetlana Nowoshenowa von den Palestinians and Jews for Peace in einem Interview mit der „Graswurzelrevolution“. Wie viele andere Solidaritätsbewegungen besteht auch sie aus einer Allianz aus palästinensischen und jüdischen Aktivisten*innen, die gemeinsam für ein Ende der Gewalt eintreten.
Im Vergleich mit der Aggressivität und dem Zynismus der dominierenden Debatten wirkt eine Haltung, die für Empathie und respektvolle Auseinandersetzung wirbt, so naiv wie Gänseblümchen in Gewehrläufen. Wenn sich deutsche Linke mittels akademischer Abhandlungen über die historische und etymologische Genese des „From the River to the sea“-Slogans zerfleischen, trägt das aus ihrer Sicht offenbar mehr zur Lösung des Nahostkonflikts bei als israelische Aktivist*innen, die Hilfsgüter für Gaza als humanitäre Schutzschilde begleiten (siehe Interview auf Seite 10).
Angesichts solcher Selbstgerechtigkeit nicht zu verstummen, dafür plädiert auch der soeben erschienene Sammelband „Trotzdem sprechen“, der Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven versammelt. Darin wird viel über die Sprachlosigkeit nachgedacht, die so viele seit Kriegsbeginn lähmt, aus Angst, niedergebrüllt zu werden. „Stammeln im Getöse“, nennt Paula-Irene Villa Braslavsky das in ihrem Beitrag. Doch wer nicht mal mehr um Worte ringt, überlässt den Schreiern das Feld. Und lässt den Trugschluss zu, dass sie den Zustand der Linken repräsentieren. Das tun sie nicht. Und angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist es unerlässlich, sich das vor Augen zu führen, um nicht den Mut zu verlieren. Die Fanatischen sind laut, aber wir anderen sind mehr.
Lena Gorelik, Miryam Schellbach, Mirjam Zadoff (Hg.): Trotzdem sprechen, Ullstein 2024