Ein Kommentar von Stella Jarisch
Zehn umgetopfte Pflanzen später und acht Wochen nach Beginn der Isolation ist es so weit: Mein Zeitgefühl ist dahin. Nachdem ich die Walpurgisnacht vergessen und schuldbewusst die Internationale alleine vor meinem Laptop gesungen habe, mache ich mich auf den Weg zur letzten Kundgebung des Tages. Mit dem Ersten Mai wagte Österreich sich allmählich an eine Lockerung der Maßnahmen heran. Das wiedergewonnene Versammlungsrecht gehört gefeiert.
Ich bin noch nie auf einer Demo gewesen, auf der sich die anwesenden Personen mit ausgestreckten Armen im Kreis drehen, um den Sicherheitsabstand zu wahren. Die temporären Veränderungen im sozialen Umgang miteinander haben einen wenig überraschenden Effekt auf das Zusammensein. Viele sind da, aber so richtig miteinander sind wir nicht. Dennoch zählt der Wille. Menschen sind gekommen, um Solidarität zu zeigen und sicherzustellen, dass unsere Stimmen gehört werden. Diese in Nuklear-Familien und WGs aufgeteilten Grüppchen im Zwei-Meter-Abstand geben mir Hoffnung, sie verkörpern mein Wunschbild von Zusammenhalt. Zusammenhalt, wie ihn eine starke Europäische Union auch transnational bieten könnte. Doch die Mitgliedstaaten bleiben sich selbst überlassen, ein unausgesprochener Wettbewerb angezettelt und mit dem Finger gezeigt auf jene, die am meisten mit der Situation überfordert sind. Die EU fordert gleiche Rechte für alle, ohne Unterscheidung nach Staatsangehörigkeit, Geschlecht, Sprache, Kultur, Beruf, Behinderung oder sexueller Orientierung. Doch in Zeiten wie diesen wird klar, dass in einem instabilen, kapitalistischen Wirtschaftssystem genau diese Rechte hintanstehen. COVID-19 ist nicht unser einziges Problem. Ein Gesundheitsnotstand wie dieser bringt die Krise, in der wir uns schon lange befinden, nämlich eine allesübergreifende soziale wie ökonomische Krise, deutlich zum Vorschein. Geschlossene Grenzen und erstarkenden Nationalismus gibt es auch im neoliberalen Gewand. Sie weisen auf ein grundsätzliches strukturelles Problem hin, das eine tiefergehende Lösung als das alleinige Auslöschen des Krisenherdes bedarf. Eine zweite Infektionswelle wird kommen und wir müssen jene schützen, die durch die soziale und ökonomische Krise am meisten bedroht sind. Mit dem kolonialen Erbe geht eine Verantwortung einher. Unterstützung für Länder des Globalen Südens anzubieten, ist unsere Pflicht, da Gesundheits- und Sozialsysteme in vielen Ländern drastisch unterfinanziert und ein Kollaps wesentlich schlimmere Folgen hätte . Auf globaler Ebene muss es deshalb etwa eine Streichung von Schulden geben,,Zuschüsse statt Kredite müssen gewährt werden, um spätere Abhängigkeitsverhältnisse zu vermeiden. Und auch ein Patent-Verbot für Impfstoffe und andere Arzneimittel ist unabdingbar, um Unternehmen daran zu hindern, von der Krise zu profitieren.
Im Umgang mit Grund- und Freiheitsrechten ist große Wachsamkeit geboten und es liegt an uns allen, die „neue Normalität“ kritisch zu hinterfragen. Wir müssen die politische Lage im Auge behalten und motiviert bleiben, auf die Straßen zu gehen und für unsere Rechte einzustehen, genauso wie für diejenigen, denen ihre Rechte verwehrt werden.
Internationale Unterstützung: Seebrücke https://seebruecke.org/leavenoonebehind/aktionen/
Hilfe vor der eigenen Haustüre: Gabenzäune
1 Kommentar zu „an.sage: Mit ausgestreckten Armen“
true words…