Ein Kommentar von LEONIE KAPFER
„Eindeutig“ und „zweifelsfrei“ konnte der Polizeibeamte mit der Dienstnummer 30897 nach eigener Aussage Josef S. identifizieren – als angeblichen Rädelsführer einer Gruppe randalierender Jugendlicher während der Akademikerball-Demo im Jänner 2014. „Eindeutig“ und „zweifelsfrei“ sind schwierige Begriffe, dies hat uns nicht nur die postmoderne Theorie bis ins Detail erläutert. Auch empirische Studien zeigen, dass Augenzeug_innen zu fünfzig Prozent in ihren Aussagen irren. Wenn „zweifelsfreie“ Wahrheiten verkündet werden, ist also durchaus Zweifel angebracht. Mitunter auch Verzweiflung – über das Justizsystem.
Der Fall Josef S. ist ein Grund zu verzweifeln, er ist ein weiterer Mosaikstein, „der sich in ein Bild öffentlicher Wahrnehmung fügt und ein schwindendes Vertrauen in die Justiz“ zeigt, wie die „Standard“-Journalistin Maria Sterkl schreibt. Weitere Mosaikteilchen sind schnell gefunden, insbesondere aus feministischer Perspektive. Eine im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte Studie aus Deutschland zeigt, dass die Verurteilungen wegen Vergewaltigung drastisch rückläufig sind. 2012 führten 8,4 Prozent der angezeigten Straftaten zu einem Schuldspruch, zwanzig Jahre zuvor waren es noch 21,6 gewesen. In Österreich sind die Zahlen erschreckend ähnlich: Während 2001 noch zwanzig Prozent aller Anzeigen zu einer Verurteilung führten, waren es 2011 nur noch 13 Prozent. Bei sexueller Gewalt ist die Justiz also sehr zurückhaltend mit Schuldsprüchen: Im Zweifel für den Angeklagten.
Bei Vergewaltigungen gibt es meist (wie auch bei Josef S.) nur eine_n Belastungszeug_in – das Opfer der Tat. Dann steht Aussage gegen Aussage. Zugegeben, nicht einfach für Richter_innen und Staatsanwält_innen. Deshalb enden solche Fälle häufig mit Freisprüchen. Der auf das römische Recht zurückgehende Satz „In dubio pro reo“ ist im Grunde ja auch gut und richtig. Was passiert, wenn er ignoriert wird, zeigt der Fall Josef S. Was passiert, wenn er bloß vorgeschoben wird, zeigen die sinkenden Schuldsprüche bei Vergewaltigungen. Doch dass die Justiz ganz offensichtlich mit zweierlei Maß misst, scheint nur wenige zu echauffieren.
Christian Pfeifer, Leiter der erwähnten Studie, nennt als Grund für den Rückgang unter anderem, dass die Justiz überlastet sei und die Erstaussagen der Opfer aus Zeit- und Personalmangel nicht entsprechend protokolliert werden könnten. Ein grober Missstand, der sich im weiteren Prozessverlauf zu Ungunsten des Opfers auswirken kann.
Auch Maria Sterkl spannt in ihrem Artikel den Bogen von Josef S. zu sexuellen Straftaten. Sterkl verwundert vor allem die Tatsache, dass der Richter die Beschreibung des belastenden Polizeibeamten in die Beweisführung aufnahm und ihnen Glauben schenkte: „Der Wega-Beamte beschreibt naturgemäß plastisch, dass die Fenster und die Sicherheitsschleuse einer Polizeistation angegriffen, ein Polizeiwagen demoliert, Polizisten mit allerlei Gegenständen beworfen wurden – es ist ja eindeutig passiert (…) Nicht bildlich festgehalten wurde hingegen, dass es der Angeklagte war, der konkrete Sachbeschädigungen beging (…) Hätte die Aussage jedes Vergewaltigungsopfers, das die ihm widerfahrenen Gewalttaten ebenfalls ,glaubwürdig und plastisch‘ beschreibt, die gleiche Beweiskraft wie die Angaben des Belastungszeugen im Fall Josef S., dann wäre die Verurteilungsquote bei sexueller Gewalt wohl um einiges höher.“
In der Tat. Eine Vergewaltigung ist aber nicht staatsgefährdend. Vergewaltigung bleibt ein Kavaliersdelikt, eine Lappalie, so normal im Patriarchat, dass für rechtliche Sanktionen die Kapazitäten fehlen. Hierarchisierung im Strafrecht ist vielleicht notwendig, aber es sollte dabei nie vergessen werden, dass jeder Hierarchie Machtstrukturen eingeschrieben sind, die ständiger kritischer Analyse bedürfen. Dabei kann Zweifel helfen.
1 Kommentar zu „an.sage: Im Zweifel“
endlich wieder einmal ein vernünftiger artikel zu dem thema! danke! kleines detail am rande: es sind nicht 13% der angezeigten fälle, sondern 13% aller prozesse wegen sexualisierten verbrechen, die mit einer verurteilung enden. nur relativ wenige anzeigen führen zu einem prozess (sicher weniger als die hälfte, aber dazu gibt es keine statistiken in österreich). denn wenn man eine anzeige macht, muss die polizei das nicht an die staatsanwaltschaft weitergeben und die staatsanwaltschaft muss nicht unbedingt anklage erheben.