Während die EU-Kommission ihre samtweiche Kritik am ungarischen Mediengesetz durchzusetzen versucht, verweisen Demonstrant_innen mit verklebten Mündern auf das drohende Ende der Pressefreiheit im Land. Welche Folgen hat das umstrittene Regelwerk für eine feministische Medienöffentlichkeit? ROSEMARIE ORTNER hat sich bei ungarischen Medienaktivist_innen umgehört.
„Eigentlich habe ich noch nicht ganz verstanden, wie das Gesetz unsere Webseite betreffen wird.“ Rita Antoni, eine der Gründer_innen der feministischen Internetplattform „N´´okért“ („Für Frauen“), hält sich zurück mit einer schnellen Einschätzung. Zu vieles ist noch unklar, das Gesetzespaket eine komplexe Materie, die unterschiedlich interpretiert wird. In einem Punkt stimmen die meisten Kritiker_innen jedoch überein: Die Machtkonzentration bei der neuen „Nationalen Medien- und Infokommunikationsbehörde“ (NMHH) ist äußerst problematisch. Registrierte Medien werden von ihr kontrolliert und bei Verstößen mit Geldstrafen bis zu 720.000 Euro belegt, was kleinere Medienunternehmen finanziell leicht in den Ruin treiben kann. Die inhaltlichen Kriterien wurden zum Großteil bereits in der im Herbst beschlossenen „Medienverfassung“ festgelegt, jedoch nur äußerst vage formuliert. Die NMHH ist ausschließlich mit Mitgliedern der nationalkonservativen Fidesz-Partei besetzt. Annamária Szalai etwa war bisher Fidesz-Delegierte im Medienrat, gilt als Vertraute von Ministerpräsidenten Viktor Orbán und wurde – wie gesetzlich vorgesehen – direkt von ihm und auf neun Jahre als Leiterin der neuen Medienbehörde bestellt. Der große Spielraum, den die neue Behörde bei der Beurteilung hat, könnte zu einer Fidesz-konformen Auslegungspraxis führen, wird befürchtet. Und solange keine tatsächliche Praxis etabliert ist, regiert Unsicherheit in den Redaktionen und führt zu vorauseilendem Gehorsam. Gerade diesen zentralen Punkt, nämlich die Etablierung einer Fidesz-Kontrollbehörde, hat die EU-Kommission in ihrer Kritik jedoch nicht angetastet.
Kurzer Kuss. Die Stoßrichtung der künftigen Praxis dieser Behörde ist für Tamás Dombos, Mitglied der Schwulenorganisation Háttér („Hintergrund“), offensichtlich. In einem offenen Brief an Abgeordnete des Europäischen Parlaments verweist er auf Annámaria Szalais bisherige Haltung zu Gender-Fragen. Artikel 83 des neuen Gesetzes legt die „Förderung und Stärkung des nationalen Zusammenhalts und der sozialen Integration, und den Respekt der Institution Ehe und des Wertes der Familie“ als Aufgaben des öffentlichen Rundfunks fest. Tamás Dombos erinnert auch an frühere Aktivitäten von Annamária Szalai: Nach einer Beschwerde wurde 2009 vom damaligen Medienrat (der mit weniger weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und von allen Parlamentsparteien beschickt war) eine nachmittägliche Talkshow untersucht. Diese berichtete über eine inoffizielle Partnerschaftszeremonie, die mit einem kurzen Kuss der beiden Männer endete. Die Behörde verwarf die Beschwerde mehrheitlich, Szalai allerdings distanzierte sich in einer Presseaussendung von der Mehrheitsentscheidung, denn die „imitierte Hochzeit zweier Männer“ hätte „die Institution der Ehe entweiht“.
feminist public sphere 2.0. Könnte auch feministische Berichterstattung mit der mediengesetzlichen Regelung über Familienwerte und die Institution Ehe in Konflikt geraten? Eine feministische Medienöffentlichkeit in Ungarn findet vor allem im Internet statt, in Form von privaten Seiten und Blogs. Feministische Printmedien existieren nicht, Radiosendungen nur wenige, etwa beim Community-Sender „Tilos Rádio“. Auf „N´´okért“, „Meger´´oszakoltak“ (nennt sich auf Englisch: „Rape Recovery“) und „Tüsarok“ („Bleistiftabsatz“) schreiben Medienaktivist_innen gegen Gender-Stereotype an, kommentieren und moderieren Foren und vernetzen sich. Derart ist eine lebendige virtuelle Community entstanden, deren Aktivist_innen einander zwar nicht allzu oft außerhalb des Netzes treffen, aber vieles teilen, vor allem ihre aktivistische Motivation. Rita Antoni von „N´´okért“ ist an der Uni auf Gender Studies und feministische Kritik gestoßen: „Das hat mein Leben und meine Sichtweise grundlegend verändert, und mir wurde klar, wie wichtig es ist, diese Ansichten außerhalb des akademischen Diskurses zu verbreiten. Ich dachte mir, wissenschaftliche Artikel zu schreiben ist nicht genug.“ Die Gründer_innen von „N´´okért“ lernten sich auf „T´´usarok“ kennen, fanden die lockere Moderation dort bei sexistischen Kommentaren zu nachsichtig und starteten 2009 ihre eigene Seite, wo Provokateur_innen aus dem Forum ausgeschlossen werden können.
Für Selkt-sa, eine Aktivistin, die unter Pseudonym auf „Rape Recovery“ schreibt, ist „Bloggen die Basis der feministischen Community, weil es so wenige Feminist_innen gibt, und so verstreut. Wir haben sehr wenige Möglichkeiten, unsere Ansichten unter uns zu besprechen. So gehen wir in die Anonymität und suchen Genoss_innen im Netz.“ Seit einiger Zeit pausiert sie allerdings mit dem Schreiben, angesichts der Unklarheiten des neuen Gesetzes. Sie befürchtet Probleme für feministische Blogs: „Es wird natürlich nicht offen nach ‚Familienwerten’ oder z.B. Pro-Abtreibung zensuriert werden, sondern der Medienrat wird fragen, warum ein Blog, der als Medium funktioniert, keine gründliche Redaktion hat, warum wir keine GmbH gegründet haben, warum wir keine Steuer zahlen, woher wir das Geld haben, um den Blog zu betreiben, und so weiter.“
Behördlich beaufsichtigtes Bloggen. Wie weit das Gesetz private Blogs und Internetseiten tatsächlich betreffen wird, ist weiterhin relativ unklar. Ein Kriterium, ab wann man als registrierungspflichtiges Medium gilt und somit der Kontrolle der neuen Behörde untersteht, ist Kommerzialität: Wer keine Einnahmen generiert, muss sich nicht als Medium registrieren. Aber fallen darunter auch Blogs, die zum Beispiel mit Google-Ads ein wenig Geld lukrieren? Diese Frage betrifft auch feministische Seiten. In ihren Brief vom 21. Jänner an die ungarische Regierung äußerte die zuständige EU-Kommissarin Neelie Kroes unter anderem die Befürchtung, die Anforderung „ausgewogener Berichterstattung“ könnte bis in die Blogger_innen-Szene hineinreichen.
Die ungarische Regierung zeigte sich als Musterschüler und versprach nun Änderungen zu den von der Kommission kritisierten Punkten: Unter anderem würden Blogs von der „ausgewogenen Berichterstattung“ ausgenommen werden. Ob diese aber zur Gänze aus der Registrierungspflicht und dem Zugriff des Gesetzes entlassen werden, bleibt ungewiss. Und da die EU das grundlegende Konzept einer parteipolitischen besetzten Kontrollbehörde nicht anzugreifen wagt, werden im adaptierten Gesetz, das bereits in den nächsten Wochen vorliegen soll, wohl bloß technische Neuerungen zu finden sein.
Nur ein Ablenkungsmanöver? Aber nicht alle Aktivist_innen sehen das neue Mediengesetz als ernsthafte Bedrohung. Móni Pál, Autorin verschiedener Plattformen, die bis vor kurzem auch einen eigenen Blog betrieben hat, interpretiert die Aufregungen um das Gesetz mehr als Ablenkungsmanöver: „Die Leute beschäftigen sich mit dem Gesetz, anstatt mit wirklichen Problemen, z.B. damit, was die Menschen in Ungarn über Feminismus denken.“ Und die Freiheit der Presse sei mit oder ohne neuem Gesetz eine Schimäre: „Wir können natürlich Artikel aus feministischer Perspektive schreiben, es ist nicht verboten. Aber diese Artikel erscheinen nur schwer in großen Zeitungen. Die Unternehmen, die in Frauenzeitungen ihre Waren bewerben und dafür zahlen, möchten nicht, dass Frauen lesen, wie sie z.B. ohne Make-up oder plastische Chirurgie schön sein können. Und die zum großen Teil konservativen Menschen möchten nichts über Gleichheit lesen, oder darüber, wie sie ihr Leben verändern sollten.“
Auch Rita Antoni ist derzeit noch nicht allzu beunruhigt, dennoch denkt sie über mögliche Strategien nach: „Ich bin auf jeden Fall bereit, auf einen ausländischen Server auszuweichen, wenn es hart auf hart kommt.“ Eine Maßnahme, die etwa Indymedia Ungarn schon zu Jahresbeginn umgesetzt hat.
Rosemarie Ortner lebt in Wien mit Blick nach Budapest, wo sie die letzten vier Jahre verbrachte.
Feministische Plattformen und Blogs in Ungarn:
http://www.tusarok.org
http://www.nokert.hu
http://megeroszakoltak.blog.hu