Cis Typen analysieren lieber die ganze Welt, anstatt in Therapie zu gehen. Warum nur? Von NELLI TÜGEL
Die Sache ist die: Beweisen kann ich es nicht. Aber aus jahrelanger Erfahrung als Zeitungsredakteurin weiß ich von einem Phänomen zu berichten, ich nenne es das Großerklärer-Phänomen. Und das geht so: Wenn Großereignisse passieren, besonders solche mit geopolitischen Auswirkungen, dann lassen die von cis Männern verfassten, meist entsprechend ausführlichen Großerklärungen nicht lange auf sich warten. Je gewaltiger das Ereignis, desto besser. Je mehr Unsicherheiten es für die von ihm getroffenen Menschen produziert, desto sicherer wird der Großerklärer in seiner Analyse. Ein Kriegsausbruch, den kaum jemand vorhergesehen hat? Kein Problem für Winfried; umstandslos hat er Prognosen zur Hand – und sich selbst verziehen, noch wenige Tage zuvor das genaue Gegenteil dessen, was passiert ist, behauptet zu haben. Eine weltweite Pandemie, die alles auf den Kopf stellt? Schon kommen Ronald, Mario und Thomas mit einer ganzen Reihe von Thesen darüber um die Ecke, wie sich die Welt nun verändern werde. Klimawandel? Andreas weiß, was zu tun ist und hat praktischerweise auch schon ein Buch dazu verfasst.
Wichtig ist nur, größtenteils im Abstrakten, im „Großen“ eben zu verbleiben, und sich mit den konkreten Folgen all dieser Schrecklichkeiten möglichst wenig zu befassen.
Die wiederum betreffen oft (das heißt auch, klar, nicht immer) überdurchschnittlich stark Frauen. Nun bin ich nicht der Meinung, dass Betroffene exklusives Äußerungsrecht haben sollten zu Sachverhalten, die sie zu solchen machen. Und versteht mich bitte nicht falsch: Es gibt einige tolle Texte von cis Männern, die ich dem Großerklärer-Genre zuordnen würde, ein paar meiner Lieblingsklassiker gehören dazu. Doch am Typus des Großerklärers lässt sich nun einmal auch ein bemerkenswerter Widerspruch beobachten: Um die „großen Linien“ des Weltgeschehens erkennen und anderen erklären zu können, ist offenbar eine gewisse Distanz zu den in Rede stehenden Politiken, Kriegen und Krisen nötig. Als etwa zu Beginn der Corona-Pandemie viele Frauen noch damit kämpften, im neuen Alltag mit Kita-, Schulschließungen und Isolation klarzukommen oder aber für andere konkrete Hilfe zu organisieren, waren die ersten männlichen Long-Thinkpieces über die „neue Lage“ längst publiziert.
In diesem Beispiel steckt freilich schon ein Teil der Erklärung: Cis Typen haben im Durchschnitt mehr freie Zeit zu Verfügung, auch dann, wenn sie Väter und berufstätig sind, denn der Gender-Care-Gap ist nun einmal Realität. Es gibt aber noch weitere Faktoren, die in das Großerklärer-Phänomen einfließen. So sind Frauen unterm Strich zurückhaltender, wenn es um die Analyse und Bewertung sich überschlagender Ereignisse von unabsehbarer Tragweite geht – sie verweisen dann gerne darauf, nicht genug zu wissen, um sich zu äußern. Und selbst Expertinnen winken häufiger ab, wollen sich lieber (noch) nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Cis Typen dagegen haben, mutmaßlich durch Sozialisation bedingt, seltener und weniger Hemmungen, schnell mal einen rauszuhauen – ein Grund dafür, dass auch auf Meinungsplätzen solcher Medien, die halbwegs paritätisch besetzte Redaktionen haben, ein Männerüberhang existiert.
Zweitens bietet das Großerklärerdasein die Möglichkeit, sich selbst gegenüber so etwas wie Kontrolle zu simulieren in einer unübersichtlichen und beängstigenden Welt. Das finde ich im Übrigen absolut nachvollziehbar, ich hab’s sogar selbst schon ausprobiert – also mithilfe großer Thesen die Gedanken an existenzielle Unsicherheiten auf Abstand zu halten. Sprich: Who am I to judge.
Die Sache ist nur: Beweisen lässt es sich nicht. Aber meiner Erfahrung nach kann der gemeine Großerklärer eines ganz schlecht: sich eingestehen, auch mal geirrt zu haben und daraus eine gewisse Demut entwickeln. Darum sind Zeitungen, Bücher und das Internet voll mit einigen guten und vielen furchtbar falschliegenden Großerklärungen. Unsere turbulenten Zeiten arbeiten dem Großerklärer hier zu: Denn was interessiert ihn sein Gerede von gestern, wenn heute schon die nächste Krise auf Einordnung wartet.
Nelli Tügel arbeitet als Journalistin und lebt in Berlin.