Der neueste Dekonstruktionstrend in meiner Umgebung richtet sich gegen die Alkoholnorm. Sobald ein Gruppentreffen stattfindet, wird ganz selbstverständlich Bier getrunken. Auch wenn eine Person vielleicht gar keine Lust drauf hat. Diesen Zwang finden viele unschön, das verstehe ich sehr gut.
Bis ich zwanzig war, rührte ich keine unter die Drogendefinition fallenden Substanzen an, also auch keinen Alkohol. Meine Motivation war politisch, doch mein weißdeutsches Umfeld kaufte mir das nicht ganz ab. Es fand es viel logischer, dass ich wegen meiner muslimischen Familie nicht trinke. Ekliger Geschmack, Leberzirrhose, Suchtgefährdung, Konventionsbruch und Ersticken des revolutionären Geistes (Notiz: Ich war und bin fest davon überzeugt, dass Drogen den Menschen zufriedenstellen und die Wut regulieren, sodass Missstände akzeptiert anstatt bekämpft werden!)? Come on, das wäre zu weit hergeholt.
„Du bist nur so brav, weil deine Eltern so streng sind!“, whitesplainten mir betrunkene Typen auf schlechten Partys. „Sei mal nicht so spießig, ohne Alkohol ist Feiern doch voll langweilig!“ Sie hatten Recht, zumindest ein kleines bisschen. Schöntrinken kann eine sich vieles, auch einen Haufen zu David Guetta tanzende Dorfkids im verstörend-blauen Neonröhrenlicht verrauchter Reihenhauskeller. Wen wundert es da, dass ich als Jugendliche nie auf Partys geknutscht habe? Entweder weil ich das Angebot an potenziellen Küssmenschen für zu mickrig befand oder aber – und das schien meinen Freund_innen viel sinnvoller – weil ich so prüde war, wie Muslimas es eben vermeintlich sind.
Betrinken sowie auch Public Display of Affection scheiße zu finden, war früher verklemmt und langweilig, heute ist es Kritik auf radikalem Niveau. Ich frage mich dabei, ob es wirklich etwas mit der Zeit zu tun hat oder nicht doch damit, dass Menschen aufgrund ihres Urteils zu meinem Familienhintergrund vorbelastet sind. Mittlerweile konnte ich mir die Beschimpfung als Spaßbremse immerhin positiv aneignen – Feminist Killjoy forever!
Hengameh Yaghoobifarah trinkt genauso gern Wein wie sie es manchmal auch nicht tut.